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Region: Reichsbürger: Wie gefährlich sind die neuen Staatsfeinde?

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Reichsbürger: Wie gefährlich sind die neuen Staatsfeinde?

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    20. Januar 2016, Amtsgericht Kaufbeuren: Die Angeklagte schnappt sich ihre Strafakte und wirft sie einem Komplizen zu. Die Akte wird gestohlen.
    20. Januar 2016, Amtsgericht Kaufbeuren: Die Angeklagte schnappt sich ihre Strafakte und wirft sie einem Komplizen zu. Die Akte wird gestohlen. Foto: Screenshort Youtube

    Der kräftige Mann mit den strähnigen langen Haaren und der schwarz-weiß gemusterten Weste geht mitten im Prozess um Fahren ohne Führerschein auf die Richterin zu und ruft laut: „Sie sind verhaftet!“ 20 weitere Störer fangen an zu lachen und zu schimpfen. Im allgemeinen Durcheinander schnappt sich die Angeklagte ihre Strafakte vom Richtertisch und wirft sie dem langhaarigen Anführer zu. Einige Minuten später verlassen die Querulanten den Saal – mit der Akte. Justizwachtmeister können sie nicht hindern.

    Diese bizarren Szenen haben sich am 20. Januar dieses Jahres im Amtsgericht Kaufbeuren zugetragen. Einer der Störenfriede hat gefilmt und das Video ins Internet gestellt.

    Wenige Monate später in Nördlingen. Ein 62-Jähriger steht wegen versuchten Betrugs vor Gericht. Mindestens sieben Sympathisanten des Mannes greift die Polizei auf. Ins Gericht dürfen sie nicht, weil sie keine Ausweise oder Fantasieausweise dabeihaben. Einer ist mit Robe als Richter verkleidet, ein anderer gibt sich als Staatsanwalt aus. Sie werden wegen Amtsanmaßung vorläufig festgenommen.

    Die Szene ist sehr unübersichtlich und zerstritten

    Sind das wirklich nur Kondensstreifen von Flugzeugen? Verschwörungstheoretiker glauben, dass mit "Chemtrails" Menschen vergiftet werden sollen.
    Sind das wirklich nur Kondensstreifen von Flugzeugen? Verschwörungstheoretiker glauben, dass mit "Chemtrails" Menschen vergiftet werden sollen. Foto: Ulrich Wagner

    Die Menschen, die diese skurrilen Geschehnisse verantworten, nennen sich Reichsbürger. Oder Germaniten. Oder Staatenlose. Oder sonst wie. In ihre Weltsicht passen Nazi-Ufos genauso unbeschwert wie Chemtrails, also Kondensstreifen von Flugzeugen, mit denen ihrer Ansicht nach Menschen vergiftet werden sollen. Die Szene dieser Gruppierungen ist sehr unübersichtlich und zerstritten, doch die meisten davon haben eines gemein: Sie erkennen unseren Staat nicht an. Für sie ist die Bundesrepublik Deutschland eine GmbH oder Finanzagentur, die von außen gesteuert wird. Stattdessen sind die Anhänger dieser Ideologie davon überzeugt, dass das Deutsche Reich – wahlweise in den Grenzen von 1871 oder 1937 – immer noch existiert.

    Um ihre Einstellung zu dokumentieren, treten sie zum Beispiel aus dem Staat aus und benutzen teilweise eigene Ausweispapiere oder Autokennzeichen, die natürlich nicht gültig sind. Sie akzeptieren keine Gesetze und Gerichte. Und sie bezahlen keine Steuern und keine Strafen. Sozialleistungen beziehen viele schon von diesem nicht anerkannten Staat.

    Man könnte das alles als skurrile Spinnerei abtun, wenn es nicht Fälle wie Ingo K. gäbe. Den stoppt eine Zollstreife auf der A9 bei Dessau, weil er an seinem Auto ein Fantasiekennzeichen hat. Auf dem Beifahrersitz entdecken die Beamten zwei scharfe, geladene Waffen, Munition, ein Messer und rechte Propaganda. K. ist seit langem bei der Polizei bekannt. In einem Internet-Video schreit er voller Hass: „Am 25. Juli, das sag ich euch, mach ich diese BRD platt. Ich hau sie runter, das ist vorbei.“ In Rostock fährt ein Reichsbürger bei einer Kontrolle einen Polizisten über den Haufen. In Radeburg in Sachsen fesseln 15 Leute einen Gerichtsvollzieher mit Kabelbindern. Angesichts solcher Vorfälle kann man das alles nicht mehr als skurrile Spinnerei abtun.

    Gruppierung hat starken Zulauf und wird immer aggressiver

    Reichsbürger, Germaniten, Identitäre - Die Szene der Staatsverweigerer

    Die Bewegung der Staatsverweigerer ist sehr heterogen. Sie umfasst mehrere sektenartige Gruppen von Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen, die seit den 1980er-Jahren entstanden und untereinander zerstritten sind.

    Nur in einem sind sie sich einig: Deutschland sei kein echter Staat, das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 bestehe fort.

    Die Gruppen haben keine feste Organisationsstruktur.

    Die erste bekannte Organisation von „Reichsbürgern“ wurde 1985 als „Kommissarische Regierung des Deutschen Reiches“ gebildet. Gründer war Wolfgang Gerhard Günter Ebel, ein Westberliner Eisenbahner, der sich fortan „Reichskanzler“ nannte.

    Die Anhänger sprechen dem Grundgesetz, Behörden und Gerichten die Legitimität ab.

    Ein Schwerpunkt in der Region ist das Allgäu. Doch bayernweit nehmen die Zahlen der "Reichsbürger" zu. Derzeit sind knapp über 300 Personen im Bereich des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West als „Reichsbürger“ eingestuft.

    Die Germaniten wurde im Dezember 2010 von einer gewissen Ulrike Kuklinski auf der Schwäbischen Alb gegründet.

    Sie sieht sich als Opfer der deutschen Justiz und bildete mit Gleichgesinnten die Behindertenfürsorge „Deutsche Ringvorsorge“, die Keimzelle des „Staates Germanitien“.

    Die Bewohner verstehen sich allen Ernstes als souveränes Staatsvolk mit einem eigenen Staatsgebiet in den Grenzen von 1937.

    Der Ursprung der Identitären Bewegung liegt in Frankreich, wo sie zu Beginn des Jahrhunderts im Dunstkreis des Front National entstand. Sehr aktiv ist die IB in Österreich, neuerdings auch in Bayern.

    Sie ist ethnopluralistisch – jede Ethnie soll ihren eigenen Raum haben – und geht von einer geschlossenen „europäischen Kultur“ aus, die vor allem vom Islam bedroht sei. Für Experten ist die IB eine neue Form des Rechtsextremismus. (hogs, sohu)

    Es mehren sich die Anzeichen, dass die Gruppierungen starken Zulauf haben und zunehmend aggressiver werden. Die Amadeu-Antonio- Stiftung geht von mehreren tausend Anhängern in Deutschland aus, etwa 1000 davon sollen ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. In der Szene gibt es aber auch Verschwörungstheoretiker, Sinnsucher, Esoteriker, selbst ernannte Gurus, Gescheiterte, Spinner. Und Geschäftemacher, die anderen für 100 Euro einen Pass des Deutschen Reichs andrehen. Weil die Reichsbürger dem Grunde nach Querulanten sind, sind sie auch untereinander zerstritten, gehören mal dieser, mal jener „Reichsregierung“ an oder fungieren als „Minister“.

    Das Problem an all dem: Sie meinen es ernst, und daher geraten sie oft mit der Polizei, der Justiz und den Verwaltungsbehörden aneinander. Und sie binden dort ungeheuer viel Arbeitskraft. Denn die Staatsdiener können deren Pamphlete nicht einfach in den Mülleimer werfen. Es ist Dienstpost. Der Augsburger Amtsgerichtspräsident Bernt Münzenberg kennt die Methoden der „Staatenlosen“ seit Jahren. Oft schlagen sie im Zusammenhang mit Zwangsvollstreckungen am Gericht auf. „Die operieren immer gleich. Erst gehen sie auf Tauchstation, dann kommt Post an den Gerichtsvollzieher mit der Forderung nach einem wahnwitzig hohen Schadenersatz wegen Belästigung“, berichtet Münzenberg.

    Die kruden Konvolute umfassen nicht selten 100 Seiten. Am Ende findet sich nicht selten ein roter Daumenabdruck, der im Original aus Blut sein sollte. Was macht man damit nun? „Wir verfolgen das konsequent als versuchte Nötigung oder Erpressung“, sagt Münzenberg. Er als Behördenchef stellt Strafanzeige. Meist gibt es dann einen Strafbefehl über 60 oder 90 Tagessätze, der wird nicht akzeptiert, es kommt zum Prozess. Und da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Reichsbürger kommen gar nicht, dann ergeht meist Haftbefehl. Oder sie kommen und pöbeln herum, setzen sich nicht auf den Stuhl des Angeklagten, stehen für das Gericht nicht auf, nennen nicht ihren Namen und ihre Adresse. Vor einer Strafe schützt sie das nicht.

    In Augsburg gab es bisher keine größeren Vorfälle

    Doch nach den jüngsten Vorfällen ist die Justiz gewarnt. „Wir haben eine wunderbare Zusammenarbeit mit der Polizei“, lobt der Augsburger Amtsgerichtspräsident. Wenn der Fall eines Germaniten oder Reichsbürgers zur Verhandlung kommt, sind immer acht Beamte anwesend. „Die kontrollieren Besucher, kopieren Ausweise und nehmen Smartphones ab, denn diese Leute filmen gerne im Gerichtssaal“, sagt Münzenberg. Das Sicherheitsprogramm hat dazu geführt, dass es am Augsburger Amtsgericht noch keine größeren Zwischenfälle gab. Es führt aber auch dazu, dass die Polizei ebenfalls eine Menge Arbeit mit den Gruppierungen hat. Wie viel genau, wird beim Polizeipräsidium Schwaben Nord nicht erfasst. Es laufen verschiedene Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen versuchter Erpressung, Betrugs, Volksverhetzung und Amtsanmaßung. Bei Konflikten mit der Polizei seien „viele dieser Personen sachlichen Argumenten kaum zugänglich“, sagt Thomas Rieger, der Leiter des Präsidialbüros.

    Seine Richter und Mitarbeiter hat Münzenberg selbst schon mehrfach im Umgang mit den Reichsbürgern geschult, auch das Justizministerium bietet Fortbildungen an. Oberste Priorität: Auf nichts einlassen, gelassen bleiben. Denn sonst haben die Staatsverweigerer schon eines ihrer Hauptziele erreicht: Verwirrung stiften. „Es ist lästig, aber wir haben keine Angst“, sagt Münzenberg. Durchgekommen sei noch keiner mit dem seltsamen Vorgehen.

    Reichbürger wollten ihre Masche auch bei Angela Merkel anwenden

    Doch einen kleinen Vorfall gibt es, der den Amtsgerichtspräsidenten eines Tages im US-amerikanischen Schuldnerverzeichnis auftauchen ließ. Bei den Behörden heißt das „Malta-Masche“. Und die geht so: Reichsbürger fordern Geld von Behörden. Mithilfe eines Tricks gelingt es einigen, aus der Forderung eine echte Mahnung zu machen. Sie melden im US-Handelsregister online eine Firma an und stellen ihre erfundene Mahnforderung ins amerikanische Schuldenregister. Dort prüft niemand, ob es die Firma oder die Mahnung tatsächlich gibt.

    Dann wird der Schuldtitel an eine andere Firma mit Sitz auf Malta abgetreten, die ebenfalls Reichsbürgern gehört. Diese strengt dann in Malta ein einfaches Mahnverfahren an und erhält von den Gerichten einen Schuldtitel. Malta gehört zur EU – der Titel ist theoretisch sogar in Deutschland vollstreckbar. Wenn sich ein Gerichtsvollzieher dafür finden würde. Bernt Münzenberg stand mit Schulden in Höhe von 2,3 Milliarden Dollar im US-Register. Er konnte den Eintrag löschen lassen. „Seitdem sehen wir jede Woche dieses Verzeichnis durch“, berichtet er. Erst jetzt ist bekannt geworden, dass Reichsbürger versucht haben, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck mit der „Malta-Masche“ den Gerichtsvollzieher auf den Hals zu hetzen.

    Bayerischer Verfassungsschutz beobachtet vor allem zwei Gruppierungen

    Man kann all dies also nicht mehr als skurrile Spinnerei abtun. Zudem unter den Staatenleugnern viele mit rechtsextremer Gesinnung sind, auch wenn das immer wieder gern bestritten wird. Der bayerische Verfassungsschutz jedenfalls beobachtet mit Sorge, dass die Zahl der Staatsverweigerer zunimmt. „Der Kreis derer, die sich den Reichsbürgern irgendwie zugehörig fühlen, ist deutlich gewachsen“, sagt Verfassungsschutz-Präsident Burkhard Körner.

    Seine Behörde beobachtet vor allem zwei Gruppierungen: die „Exilregierung Deutsches Reich“. „Ihre Ideologie ist völkisch und antisemitisch. Das ist klar rechtsextremistisch“, so Körner. Und sie hat die „Identitäre Bewegung“ (IB) im Visier. Das ist eine neue Gruppe, die einen „Ethnopluralismus“ verfolgt. Jede Ethnie soll ihren eigenen Raum haben, ein Miteinanderleben mit Fremden wird ausgeschlossen. In Bayern gibt es Ableger in Schwaben, Oberbayern und Franken.

    „Die Identitären sind der Versuch einer ideologischen Modernisierung des Rechtsextremismus“, sagt die Politikwissenschaftlerin und Soziologin Miriam Heigl. Sie leitet die Fachstelle für Demokratie in München. Die Identitären predigten nicht mehr die Blutabstammung, sondern eine Art kulturelle und religiöse Reinheit, sagt Heigl. Der Mechanismus aber sei der alte: Wir schließen die anderen aus. Ursprünglich seien die Identitären ein Internetphänomen gewesen, doch seit ein, zwei Jahren gründen sich echte Verbände. Es gebe jede Menge Schnittmengen zu Pegida und anderen Gruppierungen wie dem „Bündnis Deutscher Patrioten“. „Da entsteht ein extrem rechtes Projekt“, sagt Miriam Heigl.

    Viele sind von der Politik enttäuscht

    Aber warum eigentlich? Ist es die viel zitierte Politikverdrossenheit? „Das Frustpotenzial und ein Gefühl der mangelnden Anerkennung wachsen“, sagt Politologin Heigl. In einer Umfrage von TNS Infratest stimmten 88 Prozent der AfD-Anhänger der Aussage zu: „Die da oben machen sowieso, was sie wollen, meine Meinung zählt da nicht.“ Und Rechtswähler wählen aus Enttäuschung. Eine Befragung von Infratest dimap nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt ergab: 64 Prozent haben ihre Stimme aus Enttäuschung über die anderen Parteien der AfD gegeben. Nur 27 Prozent sagen, von den Rechtspopulisten überzeugt zu sein. In einer Münchner Studie ist laut Heigl herausgekommen, dass auch das Vertrauen in Institutionen abnimmt.

    Dass in diesem ganzen Konglomerat auch bekannte Künstler nicht vor merkwürdigen Auftritten gefeit sind, belegt Xavier Naidoo. Der Sänger ist am Tag der Deutschen Einheit 2014 bei einer Protestkundgebung der Reichsbürger in Berlin zu Gast. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Freiheit für Deutschland“. Und als ob das nicht eigenartig genug wäre, hält er noch eine krude Rede. So sagt der Verschwörungstheoretiker etwa, dass die offizielle Darstellung der Attentate vom 11. September 2001 unwahr sei. 2011 sagt der Sänger im Morgenmagazin der ARD über Deutschland: „Wir sind nicht frei, wir sind immer noch ein besetztes Land.“ Er distanziert sich zwar später, doch damit liegt er ganz auf einer Linie mit den Reichsbürgern.

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