An die schlimmste Zeit ihres Lebens kann sich Lisa Z. (Name geändert) nicht mehr erinnern. Das kindliche Erinnerungsvermögen reicht zum Glück nicht so lange zurück. Was der heute 32-jährigen Frau in frühester Kindheit angetan wurde, als sie drei oder vier Jahre alt war, erfuhr sie erst viele Jahre später. Ihre Pflegeeltern hatte ihr das Video eines Fernsehsenders von einer Gerichtsverhandlung beim Landgericht vom September 1995 gezeigt. Von da an wusste Lisa Z., dass sie als kleines Mädchen sexuell missbraucht worden war - von ihren eigenen Eltern. Nun steht sie selbst vor Gericht.
Ihr Vater war damals zu achteinhalb Jahren Gefängnis, die Mutter zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt worden. Was Lisa über ihre Kindheit erfuhr, wie sie bei Pflegeeltern aufwuchs, später in einem Heim, das erzählt sie nun vor dem Schwurgericht. Sie ist angeklagt des versuchten Totschlags und der gefährlichen Körperverletzung, weil sie, wie ihr die Anklage vorwirft, ihren Lebensgefährten Anfang März diesen Jahres mit einem Pizzamesser schwer verletzt haben soll. Der Stich in die Brust traf die Lunge des 27-jährigen Mannes. Lisa Z. (Verteidiger: Walter Rubach), die in Untersuchungshaft sitzt, will in Todesangst zugestochen haben, als sie von ihrem Freund geschlagen und am Hals attackiert worden sei.
Angeklagte erzählt vor Gericht, sie sei geschlagen worden
Die Frau, die zur Tatzeit mit ihren vier Kindern in einer Wohnung in der Gögginger Straße lebte, hatte 2019 das spätere Opfer kennengelernt, nachdem dieser aus dem Gefängnis entlassen worden war. Weil er keine Wohnung hatte, nahm Lisa Z. ihn bei sich auf. "Er zog ein, blieb und ging nie wieder", sagt die Angeklagte. Er habe ihr einfach "leidgetan". Immer wieder, vor allem wenn Alkohol im Spiel war, kam es zu Streitereien, die zum Teil auch in Gewalt ausarteten, berichtet Lisa. Er habe sie geschlagen, einmal die Treppe hinabgestoßen, als sie von ihm schwanger war. Zur Polizei sei sie nie gegangen. Ihr Freund sei aggressiv und sehr eifersüchtig gewesen. Kurz vor der Tat habe sie beschlossen, ihn zu verlassen.
Am Tattag habe ein Bekannter sie besucht, mit ihr Hugo getrunken. Ihr Freund sei bei seiner Mutter gewesen. Man schrieb sich Nachrichten auf Facebook. Sie habe seinen Onkel treffen wollen, um mit ihm zu reden. "Er hat mir dann geschrieben, dass ich mich nicht in seine Familie einmischen soll", erinnert sich die Angeklagte. Als der Mann zurück in die Wohnung kam, eskalierte das Geschehen offenbar sofort. "Er hat einen Laptop demoliert, mich geschubst, dann mit der Faust ins Gesicht geschlagen", so Lisa Z. In der Küche habe er sie dann mit einer Hand am Hals gepackt. "Und dann donnerte er mir die Faust in die Rippen." Sie sei in Panik geraten, habe Angst um ihr Leben gehabt, ihr sei "ganz schwarz vor den Augen" geworden. "Ich bekam keine Luft mehr, es war wie in einem Alptraum." In ihrer Not habe sie nach einem Pizzamesser gegriffen, das auf einem Teller lag. "Ich wollte, dass er von mir lässt, deshalb habe ich zugestochen", beteuert die Angeklagte, die sich in diesem Augenblick die Tränen aus dem Gesicht wischt.
Das Opfer wurde in der Augsburger Uniklinik notoperiert
Ein Stich mit dem 20 Zentimeter langen Messer (Klingenlänge: neun Zentimeter) drang in die linke Brustseite ein und traf die Lunge. Das Opfer musste im Uniklinikum notoperiert werden. Der 27-Jährige, der im Prozess von Anwalt Thomas Reitschuster vertreten wird, soll am 3. Dezember in den Zeugenstand treten. Dass die Angeklagte das Opfer schon zuvor mit dem Tode bedroht und nach dem Stich zu ihm gesagt haben soll "du kannst verrecken", bestritt sie energisch.
Lisa Z., kürzlich von ihrem Ehemann geschieden, von dem drei ihrer vier Kinder stammen, erzählt dem Gericht unter Vorsitz von Roland Christiani, wie sie im Alter von 19 Jahren das erste Mal ihre Eltern wiedergesehen habe. "Sie standen vor meiner Tür. Ich machte auf und gleich wieder zu. Ich wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben." Lisa Z. erkannte ihren Vater und ihre Mutter, weil sie von ihren Pflegeeltern Fotos bekommen hatte. Als Lisa Z. zur Grundschule ging, änderten die Behörden ihren Familiennamen. Als die Eltern entlassen wurden, bekam sie zeitweise sogar Polizeischutz, weil man Racheakte nicht ausschließen konnte, obwohl sie als Kind bei dem Prozess gegen ihre Eltern im Jahre 1995 nicht aussagen musste. Anders als ihre zehn Jahre alte Schwester, die damals das Verfahren ins Rollen brachte, nachdem sie einer Pflegemutter von ihren schlimmen Erlebnissen erzählt hatte.
Eltern, Verwandte und Freunde missbrauchten die Kinder
Damals waren insgesamt vier Kinder von zwei Elternpaaren, deren Freunden und Verwandten sexuell missbraucht und teils vergewaltigt worden. Bei dem damals aufsehenerregenden Prozess vor der Jugendkammer beim Landgericht hatte eine Sachverständige den Fall sogar mit dem Kindesmissbrauch in Flachslanden verglichen, der bundesweit Schlagzeilen gemacht hatte.
Das Schwurgericht hat insgesamt acht Verhandlungstage bis kurz vor Weihnachten angesetzt. Es wird zahlreiche Zeugen, vor allem Polizisten und Nachbarn, vernehmen sowie eine Gutachterin und einen Sachverständigen hören. Der Prozess wird am 19. November fortgesetzt.
Hören Sie sich dazu auch unsere Podcastfolge über das (un)gerechte Leben in deutschen Gefängnissen an: