Neulich, erzählt Helga K. (Name geändert), habe eine Kundin vor ihr geweint. Die Kundin hatte geschildert, wie belastend die Lockdown-Situation für ihre Tochter sei, dann kamen ihr die Tränen. "Ich weinte gleich mit", erzählt die Verkäuferin, die ihren Namen nicht verraten will. Sie befürchte sonst Konsequenzen ihres Arbeitgebers. Denn Helga K. kann nicht nur Gutes über die Kundschaft erzählen. Etliche Menschen, sagt sie, würden zunehmend aggressiv. Zuletzt sei sie mit den Worten beschimpft worden: "Dann verreck, du blöde Sau." Den Mann habe ihre freundliche Aufforderung, eine FFP2-Maske zu tragen, in Rage versetzt. Macht der anhaltende Lockdown die Menschen zunehmend aggressiv?
In der Hammerschmiede hat unlängst eine Rentnerin zugeschlagen. Aus unerfindlichen Gründen ging die 83-Jährige mit ihrer Krücke auf einen jungen Zeitungsausträger los. Der 14-Jährige wurde leicht im Gesicht verletzt. Am Hochablass fielen Jugendliche unangenehm auf. Sie tranken Bier und grölten. Als die Polizei sie des Platzes verwies, belegte ein 15-Jähriger die Beamten mit obszönen Schimpfworten. Ein Mitarbeiter eines Augsburger Verkehrsüberwachungsdienstes wurde von einem Mann beleidigt. Der 39-Jährige hatte sein Auto mit einem ungültigen Anwohnerparkausweis abgestellt. Als der Verstoß geahndet werden sollte, wurde er unflätig. Nahezu täglich sind in den Pressemeldungen der Polizei Vorfälle zu lesen, bei denen Menschen die Beherrschung verlieren. Liegt das an der Pandemie und dem Lockdown? Bei der Polizei wird darüber natürlich keine Statistik geführt.
Augsburger Polizei über anhaltenden Lockdown: Ton hat sich verschärft
"Wir können keine valide Einschätzung zur Unzufriedenheit der Bevölkerung im Hinblick auf das Pandemiegeschehen vornehmen", sagt Polizeisprecher Dominik Weber förmlich. Eine Aufteilung nach Aggressionsdelikten, die oftmals mit vorherigem Alkoholkonsum einhergingen, sei objektiv nicht darstellbar. Die subjektiven Eindrücke der Beamten allerdings machten eines deutlich: "Mit der zunehmenden Dauer der Pandemiemaßnahmen hat sich der Ton dahingehend verschärft, dass Teile der Gesellschaft offenbar nicht mehr bereit sind, Einschränkungen in ihrem persönlichen Lebensbereich hinzunehmen", konstatiert Weber. Hier würden derzeit die meisten verbalen Entgleisungen gegenüber der Polizei registriert, vor allem wenn die Beamten die Maßnahmen erläutern und durchsetzen müssen. In dieser Hinsicht sei der Kommunikationsbedarf zwischen Polizeibeamten und Bürgern deutlich gestiegen.
Der Polizeisprecher betont aber auch, dass die überwiegende Anzahl der Bürger sich immer noch vorbildlich an die geltenden Corona-Maßnahmen halte – "auch wenn mit zunehmender Dauer die Disziplin bei Einzelnen, aber auch gruppendynamisch bedingt, zum Teil deutlich nachlässt." Dass die Geduld der Menschen allmählich überstrapaziert werde, stellt der Augsburger Psychologe und Psychotherapeut Siegfried Bettighofer als eine eindeutige Entwicklung fest.
"Alles zieht sich hin, man wird vertröstet, es wird auf- und zugemacht, die Menschen werden dadurch frustrierter", beobachtet Bettighofer. Viele seien zwar bereit, im Kampf gegen die Pandemie mitzumachen, doch man verstehe manche Maßnahmen immer weniger. "Etwa das Maskentragen im Freien oder das Verbot der Außengastronomie." Die Leute seien zunehmend frustriert. "Die Gereiztheit steigt und auch die Aggression", ist der Psychologe überzeugt, der zudem eine Zunahme an psychischen Störungen beobachtet.
Die Frustration über den Corona-Lockdown entlädt sich im Alltag
Die Frustration entlade sich dann oft in Alltagssituationen. "Eben wenn jemand keine Maske trägt oder man zu nah an jemand anderem an der Kasse steht. Wo man nett auf etwas aufmerksam machen könnte, wird inzwischen schnell gefaucht." Überforderung mit veränderten Situationen, steigender Stresspegel und die anhaltende Schwierigkeit, Entspannung und Freiräume zu finden, täten ihr Übriges. Die Anspannung entlädt sich dann nicht nur daheim, sondern auch in der Öffentlichkeit. Diese Erfahrung machen ebenfalls Mitarbeiter des städtischen Ordnungsamtes.
Diese begegneten zuletzt immer mehr uneinsichtigen Bürgern, die ihren Unmut zum Teil auch energisch und lautstark äußerten, formuliert es Ordnungsreferent Frank Pintsch (CSU). Auf Sensibilisierung durch die Mitarbeiter werde zunehmend aggressiv reagiert – auch wenn diese Gruppe an Menschen zahlenmäßig klein sei. Oft würde bewusst provoziert, sagt Pintsch. "Eskalationen bis hin zu körperlichen Übergriffen auf die Ordnungskräfte kamen im Einzelfall leider in der Innenstadt im Rahmen einer Beanstandung aufgrund fehlender Maske vor, sind aber die absolute Ausnahme." Die Übergriffe werden konsequent angezeigt.
Augsburger Ordnungsreferent: "Pandemie geht allen an die Substanz"
Der überwiegende Teil der Augsburger aber, so Pintsch, halte die Vorgaben des Freistaats Bayern und der Stadt Augsburg selbstverantwortlich ein. "Meines Erachtens kann nicht generell von einer Müdigkeit gesprochen werden, aber die Corona-Pandemie geht uns natürlich allen an die Substanz." Umso mehr freuen sich die städtischen Ordnungskräfte über gelegentlichen Zuspruch und Dank von Passanten auf der Straße. So geht es auch Verkäuferin Helga K. "Neulich hat mir eine Kundin ein kleines Geschenk vorbeigebracht", erzählt sie. Dabei steigen ihr wieder die Tränen in die Augen. Sie entschuldigt sich. "Ich bin durch das alles nah am Wasser gebaut."
Lesen Sie dazu den Kommentar: Anhaltender Lockdown: Viele Augsburger sind mit der Geduld am Ende
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