Neue Tarife bei Bus und Tram: Gelegenheitsfahrgäste unerwünscht

05.01.2018

Die Stadtwerke stoßen mit der Tarifreform zigtausende Augsburger vor den Kopf. Dass sich das bei den Fahrgastzahlen negativ bemerkbar macht, ist aber alles andere als ausgemacht.

Die Reaktionen auf die Tarifreform könnten kaum unterschiedlicher sein: Aus dem Augsburger Umland ist wenig von den Fahrgästen zu vernehmen, weil sich hier nicht viel geändert hat und es tendenziell eher Verbesserungen für Abonnenten gab. Wer kaum Auswirkungen spürt oder nur positive, ist zufrieden und schweigt.

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Ganz anders sieht es in Augsburg aus: Hier grollen die Gelegenheitsfahrgäste, die in relativer Nähe zur Innenstadt wohnen, weil sie künftig doppelt so viel bezahlen müssen. Verständlich. Doch dass sich an der Reform etwas ändert, ist nicht absehbar. Wenn, dann hätte der Aufstand im Sommer kommen müssen, bevor die Tarifreform politisch beschlossen wurde.

Die Stadtwerke und der AVV haben als Ziel definiert, dass ihnen Dauerkunden, also Abonnenten, wichtiger sind als Gelegenheitsfahrgäste, weil die Zahl der Abos trotz steigender Fahrgastzahlen sinkt. Die Politik ist dieser Marschrichtung gefolgt. Mit sanftem Druck – man kann auch von Zwang sprechen – sollen Fahrgäste nun zum Abo bewegt werden. Das könnte trotz Boykottaufrufen besser funktionieren als gedacht.

Warum die Rechnung für Stadtwerke aufgehen könnte

Auch wenn der Protest jetzt groß ist und viele ankündigen, nicht mehr Bus und Tram zu fahren, wird sich das nicht zwingend bei den Fahrgastzahlen bemerkbar machen. Denn ein Abonnent nutzt Bus und Tram selbstverständlicher und öfter. Selbst wenn viele Gelegenheitsfahrer abspringen sollten, genügt eine mittlere Zahl an Neu-Abonnenten, um die Fahrgastzahlen zu erhöhen.

Das Problem, dass sich Kunden heute nicht mehr so gerne dauerhaft binden, sehen die Stadtwerke nicht: "Was wir mit den Abos anbieten, ist nichts anderes als eine Flatrate. Und die sind bei Handys inzwischen völlig üblich", sagt Stadtwerke-Chef Walter Casazza. Speziell im Umland könnte die Tarifreform tatsächlich mehr Abonnenten bringen, aber auch das 30-Euro-Abo in der Stadt scheint sich nach jetzigem Stand nicht schlecht zu verkaufen.

Denn das Ausmaß des Protests darf über eines nicht hinwegtäuschen: Wer jetzt (völlig verständlich) am lautesten klagt, der zählt zu den "Seltenfahrern". Laut Stadtwerke-Zahlen wurden in Augsburg 2016 nur fünf Prozent aller 62 Millionen Fahrten mit Einzelfahrscheinen der Preisstufe 1 oder einem Streifen bezahlt.

Der betroffene Personenkreis ist freilich größer. Laut Zahlen der Technischen Universität Dresden fahren rund 85 Prozent der Augsburger mindestens einmal jährlich mit Bus oder Tram. 37 Prozent der Augsburger haben eine Zeitkarte, sind also "Häufigfahrer", für die sich jetzt nicht viel geändert hat.

Bleiben also 48 Prozent Gelegenheitsnutzer – das wären etwa 140.000 Bürger. Abziehen muss man diejenigen, die bisher schon zwei Preisstufen lösen mussten, denn für sie ändert sich nichts. Das macht – wenn man der Einfachheit halber von einem Preisstufe-2-Anteil von 50 Prozent ausgeht, ein Protestpotenzial von 70.000 Bürgern. Würde man im Wahlkampf stecken, wäre die Tarifreform im Stadtgebiet Augsburg wohl nicht gekommen.

70.000 Wähler stößt kein Politiker gerne vor den Kopf. Doch es ist momentan kein Wahlkampf, und darum stößt man 70.000 Fahrgäste vor den Kopf. Der Nahverkehr zählt zur Daseinsfürsorge. Er muss für alle nutzbar bleiben. Für Gelegenheitsfahrer wurde zumindest eine Hürde aufgebaut.

"Wie ein Auto vor der Tür"

Beim Fahrgastverband "Pro Bahn" sieht man die Situation differenziert. Es sei nachvollziehbar, wenn Verkehrsverbünde versuchen, ihren Abo-Absatz zu erhöhen, sagt der aus Augsburg stammende Bundesvorsitzende Jörg Bruchertseifer. "Eine Zeitkarte zu haben ist wie ein Auto vor der Tür: Man nutzt es, wenn einem danach ist." Auch das Kurzstreckenticket sei vom Umfang her mit anderen deutschen Städten vergleichbar.

"Der Punkt ist, dass die Augsburger Tarifreform wie fast überall in Deutschland nichts kosten durfte", so Bruchertseifer. Wenn es Vorteile für manche Fahrgäste gebe, seien darum Nachteile für andere die logische Folge.

Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, dass Stadtwerke und AVV das Abo nicht auf Kosten des Bartarifs attraktiver machen, sondern weiterreichende Vergünstigen beim Abo einführen als das mit dem 9-Uhr-Euro-Abo passiert. Dafür hätte aber Steuergeld eingesetzt werden müssen, und zwar jährlich in Millionenhöhe. Die politische Diskussion war vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hatte.

Dass das grundsätzlich geht, zeigt aber der Weg, den der AVV in den Nachbarstädten Gersthofen, Neusäß, Stadtbergen und Friedberg geht. Hier gibt es im Bartarif innerorts weiter Fahrten in Preisstufe 1, obwohl diese Städte im Innenraum liegen, der dies nicht mehr vorsieht. Möglich war das, weil die dortigen Bürgermeister Sturm liefen – und bei Landrat und AVV-Verwaltungsrats-Chef Martin Sailer ein offenes Ohr fanden. Nun wurde eine Sonderregelung gefunden, die dem AVV 400.000 Euro pro Jahr Einnahmeverluste bringen wird – auffangen muss das der Steuerzahler.

Die Zeit für Wahlgeschenke?

Eine Hoffnung können sich diejenigen Fahrgäste aus Augsburg, die verärgert sind, machen. Die Politik fordert eine Bestandsaufnahme über die Folgen der Tarifreform zwei Jahre nach dem Inkrafttreten, um dann gegebenenfalls über Verbesserungen zu beraten. Das wird voraussichtlich im Januar 2020 sein. Vielleicht ist das die Zeit für Wahlgeschenke – zwei Monate später wird gewählt.

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