Startseite
Icon Pfeil nach unten
Augsburg
Icon Pfeil nach unten

Augsburger Bombennacht: Im Tiefflug in den Tod

Übung für die Operation Margin: Ein Bomber vom Typ Avro Lancaster trainiert hier im April 1942 über Großbritannien für den Angriff auf Augsburg.
Augsburger Bombennacht

Im Tiefflug in den Tod

    • |

    Das Briefing in Woodhall Spa war für 11 Uhr angesetzt. Gespannt warteten die Männer des Britischen Bomberkommandos darauf, was diesmal ihr Ziel sein würde. Kiel, wie einige von ihnen mutmaßten? Oder ein Angriff auf ein Schiff? Doch als die Offiziere die Karten auf den Tisch legten, waren die Piloten verblüfft. Sogar ein ungläubiges Auflachen konnte sich der eine oder andere im Raum nicht verkneifen. Zwölf schwere Bomber der neuesten Generation. Ohne Geleitschutz. Im Tiefflug quer durch Deutschland – und das bei Tageslicht?

    "Bomber Command Operation Order No. 143": Das Ziel heißt Augsburg

    "Wir setzen uns hin und warteten darauf, dass jemand sagen würde: In Wirklichkeit ist das Ziel…", erinnerte sich Rod Rodley, einer der Piloten, Jahre später. Doch die Planungsoffiziere scherzten nicht. "Bomber Command Operation Order No. 143" war ihr Ernst, blutiger Ernst. Das Ziel dieser Mission lag mitten in Deutschland, in der Nähe von München. Es war eine Firma, in der Motoren für die deutschen U-Boote gebaut wurden. Das Ziel hieß Augsburg.

    Der Auftrag, den die Männer der Squadron 44 aus Waddington und der Squadron 97 in Woodhall Spa an jenem Apriltag 1942 bekamen, war so verrückt wie konsequent. Im dritten Kriegsjahr waren die deutschen U-Boote erfolgreich wie nie zuvor. Kein Schiff blieb sicher vor den Wolfsrudeln, wie die Gruppen deutscher U-Boote hießen, die im Atlantik Jagd auf alliierte Geleitzüge machten. Allein 1941 hatten die deutschen Boote drei Millionen Bruttoregistertonnen Schiffsraum versenkt, tausende Seefahrer getötet. Sie gefährdeten damit zunehmend den Nachschub an Munition, Waffen und anderem Material aus den USA, auf den Großbritannien so dringend angewiesen war.

    Die britischen Strategen wollten dem deutschen U-Boot-Krieg einen empfindlichen Schlag versetzen. Deshalb wählten sie als Ziel des Bombenangriffs die MAN-Werke in Augsburg, wo die Dieselmotoren für die "grauen Wölfe" produziert wurden. Doch nicht nur deshalb geriet die Stadt ins Visier der Royal Air Force. Mit der "Operation Margin" wollte die britische Luftwaffe auch die Fähigkeiten ihrer neuen Langstreckenbomber vom Typ Avro 683 Lancaster testen. Und, es ging um den psychologischen Effekt. Noch nie waren britische Flugzeuge so tief ins Feindesland vorgedrungen. Ein erfolgreicher Angriff auf Augsburg, da waren sich die Planer sicher, würde die deutsche Bevölkerung sehr verunsichern.

    Am 14. April 1942 nahmen die Besatzungen der beiden Squadrons, insgesamt 84 Mann, das Training für die Operation Margin auf. An der Spitze der Squadron 44 stand John Nettleton, ein 25 Jahre alter Südafrikaner, der Erfahrung aus 15 Kampfeinsätzen mitbrachte. Squadron 97 wurde vom 23-jährigen John Sherwood geleitet. Ihr Crews bestanden durchwegs aus jungen Männern, der Älteste 28, der Jüngste gerade einmal 20 Jahre alt.

    Britische Piloten waren es gewohnt in größerer Höhe zu fliegen

    Die britischen Piloten waren es eigentlich gewohnt, in großer Höhe ihre Ziele anzufliegen, die Angriffe im Schutz der Nacht zu erledigen. Das Bombardement auf Augsburg sollte ganz anders werden: im extremen Tiefflug das deutsche Radar unterfliegen, dann die Attacke in den letzten Minuten kurz vor Sonnenuntergang. Es war, die Männer ahnten es, ein Himmelfahrtkommando. Auch wenn sie das genaue Ziel zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannten – ihr Flug, das wussten sie, würde lange dauern und sehr tief sein.

    Staffelführer John Nettleton (sitzend, 2. von links) und seine Crew nach der Rückkehr aus Augsburg.
    Staffelführer John Nettleton (sitzend, 2. von links) und seine Crew nach der Rückkehr aus Augsburg. Foto: IWM.

    Drei Tage später, am Vormittag des 17. April 1942, war es dann soweit. Um elf Uhr wurden die Crews über ihre Mission informiert. Dann machte das Bodenpersonal auf den Flugplätzen Waddington und Woodhall Spa jeweils sechs Lancaster klar. Jede der 21 Meter langen, bis zu 30 Tonnen schweren Maschinen wurde vollgetankt und mit drei 500-Kilo-Bomben bewaffnet. Dann gingen die sieben Besatzungsmitglieder an Bord.

    Vom Ärmelkanal über Frankreich und Konstanz fliegen die Briten nach Augsburg

    Die Route der Bomber sollte über den Ärmelkanal und das besetzte Frankreich bis nach Konstanz führen. Von dort ging es östlich weiter bis zum Ammersee, dem letzten Wendepunkt. Hier sollten die Bomber nach Norden drehen, und dem Lech in Richtung Augsburg folgen – insgesamt gut 1000 Kilometer Tiefflug über feindliches Gebiet.

    Zunächst ging alles gut. Nur wenige Meter über dem Wasser überquerten die beiden Staffeln getrennt voneinander den Ärmelkanal. Gegen 16.45 Uhr erreichte sie die französische Küste. Doch kaum hatte die sechs Lancaster der 44. Squadron das Land erreicht, wurden sie von Piloten eines deutschen Jagdgeschwaders entdeckt.

    Die deutschen Flieger in ihren Maschinen vom Typ Me 109 und Focke-Wulf Fw 190 gingen sofort zum Angriff über. Die schweren britischen Bomber hatten keine Chance. Mit Kanonen und Maschinengewehren schossen die wendigen Jäger sie ab. Drei Lancaster zerschellten brennend am Boden, einem britischen Bomber gelang gerade noch die Notlandung.

    Nur Staffelführer Nettleton und die Maschine von Ginger Garwell entkamen, und auch das nur, weil den Angreifern der Sprit ausging. Beide beschlossen, den Flug fortzusetzen – obwohl ihre Maschinen beschädigt waren. Wenige Meter über dem Boden flogen sie weiter, bis unter ihnen der Ammersee auftauchte. Für sie war er das Zeichen Richtung Augsburg abzudrehen. Minuten später sahen sie den Lech, der sie in Richtung der Stadt führen sollte. Mehr Glück hatten die sechs Maschinen der 97. Squadron. Sie waren langsamer unterwegs gewesen, um Sprit zu sparen. Unbehelligt von deutschen Jägern flogen auch sie sie Richtung Augsburg – und sollten nur Minuten nach ihren Kameraden am Ziel eintreffen.

    Die Augsburger feierten noch Plärrer als die Maschinen der Briten auftauchten

    Es war kurz vor 20 Uhr an jenem 17. April, als die britischen Bomber am Himmel über Augsburg auftauchten. Viele Menschen feierten noch auf dem Osterplärrer, es war der letzte Tag des Volksfestes in diesem Frühjahr 1942. Doch die Flugabwehr war wachsam. Sofort schlugen erste Projektile in den Maschinen ein.

    Beide Maschinen warfen trotzdem ihre Bomben auf die Hallen der MAN ab. Dann wurde Garwells Maschine so schwer getroffen, dass sie notlanden musste. Drei Männer seiner Crew starben dabei. Nettleton gelang es, mit seiner Maschine im Schutz der hereinbrechenden Nacht zu entkommen und den Rückweg Richtung Großbritannien anzutreten.

    Nur Minuten später trafen die Maschinen der 97. Squadron über den MAN-Werken ein. Auch sie wurden von der Augsburger Flugabwehr schon erwartet. Sherwoods Maschine wurde so schwer getroffen, dass sie um 20.10 Uhr in die Wälder bei Emersacker stürzte. Fünf Männer an Bord wurden so schwer verletzt, dass sie noch am Absturzort starben. Ein sechstes Crewmitglied wurde von Anwohnern aus dem Wrack geholt und erlag später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Pilot Sherwood selbst floh schwer verletzt zu Fuß. Er schleppte sich bis Holzheim (Kreis Dillingen), musste bei einem Bauern Hilfe suchen und landete als Prisoner of War L3/385 in deutscher Kriegsgefangenschaft.

    Ein Gedenkstein erinnert bei Emersacker noch heute an den Flugzeugabsturz

    Die Toten des Absturzes von Emersacker wurden zunächst auf dem Augsburger Westfriedhof bestattet. Nach Kriegsende wurden sie nach Dürnbach am Tegernsee in den dortigen Soldatenfriedhof umgebettet. An der Absturzstelle in Emersacker erinnert bis heute ein Gedenkstein des Soldaten- und Kameradenvereins Emersacker an die Toten.

    Auch eine zweite Maschine des 97. Squadrons wurde von der deutschen Flak abgeschossen. Die vier übrigen Maschinen warfen, soweit es ihnen möglich war, ihre 450-Kilo-Bomben ab und zogen dann in der Dunkelheit davon, Richtung Großbritannien. Zumindest militärisch war der Erfolg der Operation "Margin" überschaubar. Bei dem als "Augsburg Raid" bekannt gewordenen Angriff wurden insgesamt 32 Bomben abgeworfen, 17 trafen die Fabrik, fünf davon explodierten gar nicht erst. Zwölf Menschen kamen ums Leben, darunter zwei Frauen. Im Werk beschädigt wurden vor allem Krananlagen und Schmelzöfen. Die Herstellung der U-Boot-Motoren wurde dadurch nur wenige Tage behindert.

    Fast die Hälfte des britischen Geschwaders stirbt beim Angriff auf Augsburg

    Die Royal Air Force dagegen musste für diesen Angriff auf Augsburg teuer bezahlen. Von 84 Soldaten, die mit ihren Maschinen in Waddington und Woodhall Spa gestartet waren, starben 37. Zwölf kamen in deutsche Gefangenschaft. Von zwölf Maschinen kehrten nur fünf zurück, alle schwer beschädigt.

    Trotzdem feiern die Briten den "Augsburg Raid" bis heute als eine der mutigsten Luftoperationen des Zweiten Weltkriegs überhaupt. Die Kriegspropaganda jubelte über den empfindlichen Schlag, den man der deutschen Industrie versetzt habe. Der britische Premierminister Winston Churchill bezeichnete den Angriff in seinen Memoiren als Heldentat.

    So wurden auch die Besatzungen bei ihrer Rückkehr wie Helden gefeiert. Staffelführer John Nettleton bekam für seinen Angriff auf Augsburg 1942 das Victory Cross verliehen. Lange hatte er nichts von der Ehre. Am 13 Juli 1943 wurde er an Bord seiner Maschine in der Biskaya abgeschossen. Seine Leiche wurde nie gefunden.

    Dieser Artikel ist Teil der Mulitmedia-Reportage: Augsburger Bombennacht

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden