Am Ende einer langen Sitzungswoche in Berlin erklimmt sie leichtfüßig, beinahe beschwingt die Stufen zum Grünen-Büro in der Augsburger Katharinengasse. Vor ihr liegen ein entspanntes Wochenende in den noch relativ ungewohnten eigenen vier Wänden und ein Besuch von "Chicago" auf der Freilichtbühne. Es ist Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth anzusehen, dass sie sich auf das vor ihr Liegende freut. Im Alter von 65 Jahren sagte sie sich: "Komm, jetzt versuch ich's." Nach jahrzehntelanger Erfahrung des WG-Lebens suchte sie sich ihre erste nur von ihr selbst bewohnte Bleibe.
Auf 52 Quadratmetern hat es sich die Grünen-Abgeordnete, wie sie sagt, "nett gemacht". Der Tag ihres Einzugs liegt nun schon eineinhalb Jahre zurück. Trotzdem erinnert sie sich noch ganz genau, dass es ein "komisches Gefühl" und sie "aufgeregt" wie beim Auszug von zu Hause war. Zig Umzüge liegen hinter der Politikerin, die ihre vier Wände eigentlich immer schon mit Musikerfreunden, Parteikollegen und anderen Menschen teilte. Auf einem Bauernhof in Fresenhagen an der dänischen Grenze gehörten, neben den Mitgliedern der Rockband Ton Steine Scherben, außerdem Hund Fritz, Kater Eddy und ein frauenfeindlicher Ziegenbock zu den Wegbegleitern.
Was Claudia Roth an ihrer ersten eigenen Wohnung schätzt
Der Versuch, die verschiedenen Stationen in eine chronologische Reihenfolge zu bringen, scheitert irgendwann. Zu viele sind es, die München ebenso beinhalten wie Unna oder Dortmund und Brüssel. Als sie 1985 ein Bewerbungsgespräch zur Pressesprecherin der Grünen im Bundestag führte, war ihrer Erzählung nach erst einmal die Kleiderfrage zu klären. Denn statt übergroßer selbst gestrickter Pullis sei sie gerade mitten in der schwarzen Leder- und Nietenphase gewesen. Eine Ruhe- und Rastlosigkeit spricht aus ihr, wenn sie sagt, "ich musste auf Tournee gehen". Immer nur Pressesprecherin "konnte ich nicht", weshalb der Sprung ins Europa-Parlament zu ihrem nächsten größeren Etappenziel wurde.
Die eigene Augsburger Wohnung befriedigt ihren "Wunsch, mal allein sein zu dürfen", nachdem sie die letzten Jahre in einer WG im Antonsviertel gelebt hat. Hier habe sie eine Rückzugsmöglichkeit und die Chance, einmal ganz bei sich zu sein, runterzukommen. Doch dann kamen Covid und der Lockdown und mit der Pandemie eine "irritierende Einsamkeit". Plötzlich sei es klein und eng geworden, die Wände kamen immer näher. Pianist Igor Levit habe ihr in dieser Situation sehr geholfen, weil er jeden Abend um 19 Uhr ein digitales Twitter-Konzert gab. Auch bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe er im Schloss Bellevue gespielt. Insgesamt, betont Claudia Roth voll der Bewunderung, habe er 52 Konzerte gegeben.
Bundeskriminalamt nahm Augsburger Wohnsitz unter die Lupe
Seit acht Jahren nun ist Claudia Roth Bundestagsvizepräsidentin und nach Einschätzung der Bundestagspräsidenten - zuerst Norbert Lammert und aktuell Wolfgang Schäuble - "anschlagsgefährdet". Aus diesem Grund habe auch das Bundeskriminalamt (BKA) ihren Augsburger Wohnsitz unter Sicherheitsaspekten unter die Lupe genommen und sei "ziemlich zufrieden" gewesen. Ob Claudia Roth für öffentliche Termine, die sie ebenso gern ins Fußballstadion wie ins Theater führen, besonderen Polizeischutz erhält, wird vom BKA und von den Polizeipräsidien vor Ort je nach Bedrohungslage entschieden.
Welche ihrer Überzeugungen sie für andere zum Feindbild macht, kann sie gar nicht so genau sagen. Die Verunglimpfungen gehen bisweilen bis zur Morddrohung. Die 66-Jährige setzt sich für den Schutz von Minderheiten, gegen Rassismus und Diskriminierung und für eine lebendige Erinnerungskultur ein. Welches ihrer Engagements den größten Anteil an der ihr entgegengebrachten Aggression hat, lasse sich schwer sagen. Roth ist jedoch der Meinung, dass "Frauen, die als stark wahrgenommen werden, besonders im Fokus stehen und gefährdet" sind. Man versuche, Angst zu machen, um jemanden zum Schweigen zu bringen.
Claudia Roth mag den Augsburger Dialekt
Dass Claudia Roth aus dem politischen Berlin immer wieder gerne nach Augsburg zurückkehrt, liegt nicht nur daran, dass
Ein alter Bauernschrank erinnert Claudia Roth, wenn sie sich fürs Theater zurechtmacht, an ihre Mutter. Am Kranz des Möbelstücks hängt schon das Outfit, das sie an diesem Abend auf der Freilichtbühne tragen wird. Ehrenplätze haben auch zwei Deko-Objekte, die sie von der Schwester geschenkt bekam. Das sind eine Engelsfigur und ein goldener Osterhase mit Strasshalsband auf einem Sideboard. Und wie es der Zufall so will, hatte sie sich den kleineren Bruder kurz vorher selbst gegönnt. Den Flachbildfernseher für EM und politische Debatten organisierte sie sich in der Heimat, bei dem ihr seit Langem bekannten Radio- und Fernsehtechniker Franz Mutzel in Babenhausen.