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Augsburg: Von einem Lkw überrollt: Der große Kampf einer starken Frau

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Von einem Lkw überrollt: Der große Kampf einer starken Frau

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    Von einer Minute auf die andere hat sich das Leben von Rosemarie Wirth geändert. Die 51-Jährige hat nach einem Unfall schwere körperliche Beeinträchtigungen.
    Von einer Minute auf die andere hat sich das Leben von Rosemarie Wirth geändert. Die 51-Jährige hat nach einem Unfall schwere körperliche Beeinträchtigungen. Foto: Silvio Wyszengrad

    Wie geht es Dir? Rosemarie Wirth mag diese Frage nicht. Sie weiß dann nicht, was sie antworten soll. Sie will niemanden belasten. Darum sagt sie immer: „gut“. 30 Operationen musste die Augsburgerin in diesem Jahr über sich ergehen lassen. Die ersten Eingriffe retteten ihr Leben. Die nächsten ihr linkes Bein vor der Amputation. Rosemarie Wirth war am 31. März durch die Jakobervorstadt geradelt. Sie hatte an der Ampel grün, der Lkw-Fahrer auch. Er übersah die Frau beim Abbiegen. Der 38-Tonner überfuhr sie, setzte zurück, überrollte sie ein zweites Mal. Für Rosemarie Wirth hat sich seit dem Unfall fast alles in ihrem Leben geändert. Doch sie kämpft. Für sich. Und für ihr nächstes Jahr.

    Rosemarie Wirth kommt zu dem Treffen in dem Innenstadt-Café mit Krücken. Die zierliche Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt, dem zart geschminkten Gesicht und der dunklen Stimme nennt sie „meine Accessoires“. 15 Paar hat die 51-Jährige inzwischen bei sich daheim. „Statt Pumps trage ich zu meiner Kleidung eben die passenden Krücken.“ Am schönsten seien ihre violett-glänzenden. Die hätten die Farbe ihres Dirndls. Viel Geld habe sie für die Krücken-Auswahl ausgegeben. „Aber die vom Krankenhaus waren so hässlich grün. Dazu bräuchte ich ja ein Jägerkostüm.“ Der Humor von Rosemarie Wirth kann kurzzeitig fassungslos machen. Weil man sich fragt, wo sie den nach diesem Schicksalsschlag hernimmt.

    Ihr Körper sieht aus "wie nach einem Krieg"

    Rosemarie Wirth ist seit dem Unfall zu 90 Grad schwerbehindert, sagt sie. Sie muss es dazu sagen, denn man sieht es ihr nicht an. Man sieht ihre kaputten Organe nicht. Nicht ihren Körper, der laut ihren Aussagen ausschaut „wie nach einem Krieg“. Man sieht lediglich, dass sie Krücken braucht. Die Ärzte haben großflächige Hauttransplantationen bei der Augsburgerin vorgenommen. Das linke Bein musste vollständig aufgebaut werden. Dafür wurde ihr Fleisch aus dem Rücken entnommen. Ihre permanenten Schmerzen lässt sie sich nicht anmerken. Lieber reißt die 51-Jährige einen witzigen Spruch. Ihr Humor ist Wirths Lebenselixier.

    „Ich habe meinen Humor nie verloren.“ Das hört man von ihr immer wieder. Wie auch: „Ich jammere nicht.“ Beide Sätze sind eine Art Mantra für sie. Denn für Rosemarie Wirth ist alles eine Frage der eigenen Haltung und Einstellung. Auf einigen Stationen des Augsburger Klinikums hängt der Artikel, den unsere Redaktion über das Schicksal der Augsburgerin anfang September veröffentlicht hatte. Über die Frau, die an der Unfallstelle schon tot geglaubt wurde. Die sich mit ärztlicher Hilfe und ihrem starken Willen zurück ins Leben kämpfte. „Die Schwestern am Klinikum sagen, dass sie mit meiner Geschichte den anderen Patienten Mut machen wollen.“ Darüber freut sie sich. Wie auch darüber, wenn sie von wildfremden Menschen in Augsburg angesprochen wird, die sie aus unserer Zeitung kennen. Oder aus dem Fernsehen und aus Magazinen. Denn nach unserem Artikel haben sich etliche Journalisten und TV-Produktionsfirmen aus ganz Deutschland bei der Augsburgerin gemeldet.

    Die ZDF-Sendung „Hallo Deutschland“, das Frauenmagazin „Myway“ oder die „Autobild“ etwa berichteten über die Frau, die einen Unfall überlebte, den man eigentlich nicht überleben kann.“ Entsprechend wird Rosemarie Wirth auf der Straße erkannt. Das Medienecho hat sie überrascht. Manchmal ist ihr die Resonanz unangenehm. Aber viel wichtiger ist es für sie, anderen Menschen Mut zu machen und die Gefahr des toten Winkels für Fahrradfahrer aufzuzeigen.

    „Sie sind doch die mit dem Unfall,“ habe neulich eine Frau in der Straßenbahn zu ihr gesagt und angefangen zu weinen. Solche Reaktionen rühren Wirth. Dann können selbst ihr Tränen in die Augen steigen. Rosemarie Wirth will aber nicht vor anderen weinen. Sie verachtet Selbstmitleid und will auch kein Mitleid. „Man kann die Menschen nicht zujammern. So etwas finde ich unverschämt.“ Rosemarie Wirth achtet darauf, dass sie niemandem zur Last fällt. Eigentlich stünde ihr als Schwerstbehinderte eine Hilfe zu.

    Rosemarie Wirth geht weiterhin auf Partys

    Sie nimmt sie nicht in Anspruch. Wirth will ihren Alltag selbst bewältigen, unabhängig bleiben. „Da plane ich lieber mehr Zeit ein, um mir meine Jeans selbst anzuziehen.“ Jeden Schritt müsse sie jetzt sorgfältig vorbereiten. Allein das Handy in der Wohnung zu vergessen und nochmal zu holen, wird zum aufwendigen Akt. „Aber der Alltag ist die beste Therapie.“ Sie mache manchmal zu viel, glaubt sie. „Aber ich muss wissen, wo meine Grenzen sind.“ Neulich war Rosemarie Wirth bei einer Freundin zu einer Party eingeladen. Die Bekannte wohnt im oberen Stock.

    „Die wollten mich die Treppen hochtragen. Aber das wollte ich nicht.“ Schritt für Schritt nahm sie langsam jede einzelne Stufe der steilen Treppe. Das sind dann Momente, in denen sie stolz auf sich ist. Daraus schöpft sie Kraft. Solche Augenblicke lassen sie nach vorne schauen. Und nur weil sie nach vorne schaut, hat sie diese Erfolge. „Was bringt es denn, wenn ich nach dem warum frage. Nichts. Ich stelle mich den Fakten.“

    Wenn Rosemarie Wirth das Jahr 2017 passieren lässt, denkt sie nicht daran, wie sie an dem schönen Tag im März losradelte, um sich mit einer Freundin im Parkhäusl zu treffen und wie sie plötzlich unter dem Lkw lag. „Ich ziehe mich doch nicht bewusst runter.“ Sie denkt lieber daran, was sie seit dem Unfall alles schon geschafft hat. „Dass ich lebe, ist ein Wunder. Keiner konnte mir garantieren, dass ich an Weihnachten wieder gehen kann. Und, was mache ich jetzt? Ich gehe.“ Die 51-Jährige erinnert sich, wie sie sich auf der Reha immer wieder aus dem Rollstuhl gequält hatte. „Dieser beschissene Rollstuhl! Wie oft ich bei diesen Versuchen hingefallen bin. Einmal hat es so gescheppert, dass der Arzt vom Stockwerk unter mir hochkam und nachsah. Ich sagte ihm, ich mache kein Pilates, sondern bin nur aus dem Rollstuhl gefallen.“ Da war er wieder, ihr besonderer Humor.

    Sie hat gute Freunde, die zu ihr halten

    Ein Fazit zieht die Augsburgerin aus dem zu Ende gehenden Jahr nicht. „Ein Fazit ziehe ich stündlich, wenn ich etwas geleistet habe.“ Einen Erfolg macht sie allein an der Länge eines ihrer vielen Schuhlöffel fest. Angefangen hatte sie mit dem längsten, der 1,20 Meter misst. „Inzwischen ziehe ich mir die Schuhe mit einem 70 Zentimeter-Schuhlöffel an.“ Rosemarie Wirth ist stark. Sie sagt von sich, dass sie viel ausblendet. Dass es schon hart sei. Dass sie auch ihre Tiefs habe. „Die habe ich dann aber nur für mich.“ Rosemarie Wirth hat viele gute Freunde, die zu ihr halten. Mit ein paar verbringt sie den Jahreswechsel in den Bergen. Sie will es genießen, hat aber auch ein wenig Angst davor. Weil sie früher eine leidenschaftliche Skifahrerin war. Wenn die anderen auf die Piste gehen, wird sie nicht mitkönnen. Die Krücken mit den Spikes sind eingepackt. Sie freut sich auf den Kurztrip. Und darauf, dass ihre Freunde sie gefragt haben. „Keiner behandelt mich wie ein Opfer. Allen war klar, dass ich mitkomme. Ich finde, das ist ein großes Kompliment.“

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