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Augsburg: So hilft das Stadtarchiv, das Leid der NS-Zeit nicht zu vergessen

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So hilft das Stadtarchiv, das Leid der NS-Zeit nicht zu vergessen

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    Das Porträt des ermordeten jüdischen Arbeiters Josef Zebrak auf einem 1918 ausgestellten Passdokument, wie es im Augsburger Stadtarchiv aufbewahrt wird.
    Das Porträt des ermordeten jüdischen Arbeiters Josef Zebrak auf einem 1918 ausgestellten Passdokument, wie es im Augsburger Stadtarchiv aufbewahrt wird. Foto: Stadtarchiv Augsburg

    Er war kein Jude und kein politischer Gegner, zeitweise war er sogar Mitglied in Hitlers Partei NSDAP. In den Augen der Nationalsozialisten war er aber ebenfalls schädlich für die „Volksgemeinschaft“. Der Augsburger Franz Fallhuber, dessen Name wir aus Rücksicht auf die Angehörigen geändert haben, gehört zu einer Gruppe von NS-Verfolgten, die in den vergangenen Jahrzehnten nur selten im Zentrum des Gedenkens stand. Er sind Menschen, die aufgrund ihres unsteten Lebenswandels als „Asoziale“, als „Trinker“ oder auch „Arbeitsscheue“ gebrandmarkt wurden.

    Das Augsburger Stadtarchiv hilft Angehörigen von NS-Verfolgten

    Immer wieder wollen Angehörige etwas über das Schicksal von Verwandten wissen, die unter der NS-Diktatur gelitten haben oder ermordet wurden. Im Augsburger Stadtarchiv kann man ihnen oft weiterhelfen. Franz Fallhuber starb im Februar 1945 im Konzentrationslager Lichterfelde. Seine Nichte war es, die zur Leidensgeschichte des Onkels zu recherchieren begann. Um den Lebensweg besser nachvollziehen zu können, half ein Blick in überlieferte Verwaltungsunterlagen im Stadtarchiv. Georg Feuerer, Mitarbeiter des Archivs, hat das Schicksal des Mannes auch anhand dieser Daten aufgeschrieben.

    Franz Fallhubers Vater stammt aus Oberbayern. Er kommt im Jahr 1888 nach Oberhausen bei Augsburg, wo er noch im selben Jahr heiratet. Das Ehepaar bekommt vier Kinder, von denen zwei im Kleinkindalter sterben. Nach dem frühen Tod der Mutter heiratet der Witwer 1901 zum zweiten Mal. Dieser Ehe entstammen weitere Kinder, auch Sohn Franz, der 1907 geboren wird. Er wächst in schwierigen Verhältnissen auf. Mitten in den Jahren des Ersten Weltkriegs, als Hunger und Mangelwirtschaft auch in Augsburg an der Tagesordnung sind, kommt der Vater im Februar 1916 in die Haftanstalt Landsberg, aus der er erst im Ende 1918 zurückkehrt. Seit dieser Zeit gibt es im Leben der Familie wenig von Stabilität.

    Als 14-Jähriger zieht Franz in die Jakobervorstadt. Da er sich später als „Schreiner“ bezeichnet, macht er zu dieser Zeit vermutlich eine Lehre. Die Jahre nach 1921 sind geprägt von ständigem Wechsel seiner Wohnorte. Es ist zu vermuten, dass Franz keinen festen Arbeitsplatz hat, sondern mit Wanderarbeitsscheinen befristeten Jobs nachgeht. Er hält sich im gesamten südbayerischen Raum auf – vom Bodensee bis Salzburg – und kehrt nur gelegentlich nach Augsburg zurück. Im Dezember 1929 wird Fallhubers erhöhter Alkoholkonsum nach einem damit verbundenen Krankenhausaufenthalt bei der „Trinkerfürsorgestelle“ der Stadt aktenkundig, 1931 heiratet Franz – und begibt sich bald wieder auf Wanderschaft. Diesmal bis Norddeutschland.

    Augsburger war zuerst Mitglied der NSDAP, dann selbst Opfer der Nazis

    Im März 1933 tritt er der NSDAP bei. Sein Foto in der Mitgliederkartei zeigt ihn in SA-Uniform. Doch schon 1936 ist sein Austritt bezeugt, womöglich veranlasst von der Parteiführung, die „nicht-konformen“ Mitgliedern oft den Austritt nahelegt. 1940 gerät Fallhuber, zu dieser Zeit in Salzburg, in Haft und wird in eine Strafvollzugsanstalt überführt. Mit dem Ende der Haftzeit wird er aber nicht entlassen, sondern am 22. April 1940 in das Konzentrationslager Dachau überstellt. Ein Justizverfahren dafür ist nicht überliefert. Als Grund für die Einweisung ist die Ausübung von „Arbeitszwang“ auf den Inhaftierten genannt. Fallhubers Ehe wird ein halbes Jahr später „aus Verschulden des Ehemannes“ geschieden.

    Die letzte Station seines Leidensweges wird das Außenlager Lichterfelde. Hier wird Fallhuber zum Opfer skrupelloser SS-Wachmänner: Diese ermöglichen ihm und anderen Häftlingen vordergründig den Genuss von Alkohol. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um hochgiftiges Methanol. Insgesamt lassen sich zum Jahreswechsel 1944/45 im KZ Lichterfelde zwölf Todesfälle mit der Ursache „Methylalkoholvergiftung“ nachweisen. Franz Fallhuber stirbt am 5. Februar 1945.

    Während die Nichte Franz Fallhubers ein verdrängtes Kapitel der Familiengeschichte beleuchtete, recherchierte etwa gleichzeitig eine Gruppe ehrenamtlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Lichterfelde nach den Opfern dieser gezielten Mordaktion. Das Stadtarchiv kann dazu wertvolle Hinweise liefern. Zusammen mit den Dokumenten anderer Archive, Gedenkstätten, Bibliotheken und Forschungsstellen ergibt sich aus vielen Puzzleteilen ein Bild.

    Im Fall der jüdischen Arbeiterfamilie Zebrak ist es Assaf Levitin, der mehr wissen wollte über das dunkle Kapitel seiner Familiengeschichte. Levitins Urgroßvater Josef Zebrak, geboren 1877 in Stoczek im damaligen Russisch-Polen, kommt im Ersten Weltkrieg als ausländischer Kriegsgefangener ins Lager Holzminden in Niedersachsen. Als gelernter Schuster wird er im Februar 1916 von der Schuhfabrik August Wessels in Augsburg angeworben. Die beengten Wohnverhältnisse im Gefangenenlager tauscht Zebrak gegen ein Stückchen Freiheit in der Augsburger Haydnstraße 23, wenige Gehminuten vom neuen Arbeitsplatz entfernt, beschreibt Stadtarchiv-Mitarbeiter Georg Feuerer.

    Das Stadtarchiv bewahrt die Geschichte zahlreicher jüdischer Familien

    1,8 Millionen Paar Schuhe jährlich – hauptsächlich Sandalen – werden in den Kriegsjahren bei Wessels hergestellt, etwa 1000 Arbeiterinnen und Arbeiter sind hier für die „Heeresversorgung“ tätig. Für Josef Zebrak stellt die Arbeit wohl zumindest eine gewisse Ablenkung von den Sorgen um seine Familie in über 1000 Kilometern Entfernung dar. Im Oktober 1917 dann die Hiobsbotschaft: Seine Frau Ruchla verstirbt im Alter von nur etwa 40 Jahren in Warschau. Die beiden älteren Söhne Samuel und Jakob können nach Augsburg zum Vater ziehen, drei der noch minderjährigen Kinder kommen bei den Großeltern in Stoczek unter. Doch Sohn Aron und Tochter Gittel überleben die Wirren des letzten Kriegsjahres nicht.

    Bei Kriegsende im November 1918 drohen Zebrak als „Russe“ zuerst Schutzhaft und die Ausweisung. Schließlich kann er doch bleiben, seine aus der polnischen Heimat stammende künftige zweite Ehefrau Schajudel „Jenny“ Slon zieht nach Augsburg, wo im Juni 1922 Hochzeit gefeiert wird. In den 1920er-Jahren findet er Arbeit in der Schuhfabrik Levinger und im Nebenamt als Leichenwärter der jüdischen Gemeinde, vier Kinder machen die Familie komplett. Während der imposante Bau von Wessels’ Schuhfabrik in Oberhausen als Industriedenkmal noch immer steht, ist das Schicksal von Arbeiterfamilien wie der Zebraks heute oft vergessen. Im Stadtarchiv ist ein Teil der Familiengeschichte aber erhalten geblieben – durch Meldeunterlagen, Häuserbögen, Reisepassvermerke und Standesamtsregister.

    Wie alle jüdischstämmigen Augsburger werden die Zebrak nach 1933 Opfer der Ausgrenzung, Entrechtung, Enteignung, Deportation und Ermordung durch die Nationalsozialisten. Assaf Levitins Großvater Ludwig Zebrak kann nach zwei Jahren Haft in Dachau im Juli 1935 durch die Flucht nach Israel sein Leben retten. Eltern, Geschwister und andere Verwandte hingegen werden Opfer des Holocaust.

    Claudia Huber hat für die „Erinnerungswerkstatt Augsburg“ zahlreiche Informationen zum Leidensweg der Zebraks zusammengetragen. Mithilfe von Zeitzeugeninterviews und Dokumenten aus Archiven und Gedenkstätten konnte sie auch detailliert nachvollziehen, wie Josef Zebrak 1939 von der Gestapo verhaftet, im KZ Buchenwald inhaftiert und 1942 in die Tötungsanstalt Bernburg deportiert wurde. Im Februar 2019 stiftete Claudia Huber ein Erinnerungsband für das Ehepaar Josef und Jenny Zebrak mit ihren Kindern Hedwig, Rosa und Paula, welches am letzten gemeinsamen Wohnort in der Ulmer Straße 228, an der ehemaligen Synagoge von Kriegshaber, installiert wurde.

    Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, ist das KZ Auschwitz befreit worden. (AZ)

    Lesen Sie dazu auch: Als Kind allein in Auschwitz: Wie haben Sie das durchgestanden, Frau Melcer?

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