Die entsetzlichen Bilder tauchen in Alfon Tanushis Kopf auf, sie lassen sich nur schwer vertreiben. Immer wieder sieht der 45-Jährige das kleine, blonde Mädchen, das wie eine Puppe unter dem mächtigen Baumstamm liegt. Dass es seinen schweren Verletzungen erlegen ist, ist für ihn schwer zu verarbeiten. Der Chef des Augsburger Restaurants "Il Gladiatore" sowie sein Bruder und drei Mitarbeiter waren mit die Ersten, die am vergangenen Samstag bei der Tragödie auf dem Spielplatz in Oberhausen zu Hilfe eilten. In den beiden Tagen danach, sagt er, habe Hochbetrieb im Restaurant geherrscht. "Da hatten wir keine Zeit, nachzudenken. Wir waren abgelenkt. Erst jetzt realisiere ich allmählich, was passiert ist." Vergangene Nacht habe er schlecht geschlafen, war bis morgens wach. "Es war das Schlimmste, das ich erlebt habe."
Augsburger Gastronom war ein Ersthelfer beim tödlichen Spielplatz-Unfall
Es herrschte schönstes Sommerwetter am vergangenen Samstag. Tanushi und seine Kollegen richteten die Terrasse des Il Gladiatore her, deckten die Tische ein. In dem italienischen Restaurant in der pittoresken Villa an der Ecke Dieselstraße/Äußere Uferstraße sollte später eine Kommunion gefeiert werden. Plötzlich hören Angestellte vom Spielplatz nebenan ein lautes Krachen. Sie sehen, dass ein riesiger Ahornbaum, 20 Meter lang und einige Tonnen schwer, einfach umgestürzt ist. Sie rufen ihren Chef Tanushi, schnell, man müsse hin. Denn sie hören Schreie. "Das waren keine Schreie, wie man sie sonst von spielenden Kindern hört", erzählt Tanushi. "Diese Schreie waren voller Angst." Das Bild, das sich den Männern auf dem Spielplatz zeigt, gleicht einem Albtraum.
Wie Alfon Tanushi erzählt, ist der Ahorn genau auf eine Wippe niedergeschlagen, auf der die 28 Jahre alte Mutter auf der einen Seite und ihr 22 Monate altes Mädchen auf der anderen gesessen hatten. "Die Frau lag unter einem dicken Ast, der Stamm war auf das Kind niedergegangen." Von einer benachbarten Baustelle eilten zur selben Zeit Arbeiter zum Unglücksort. Tanushi weiß nicht mehr, wie viele Männer sie waren, die anpackten. Vielleicht zehn insgesamt.
Helfer versuchten vergeblich, den Baumstamm anzuheben
Sie schafften es, die Mutter zu befreien, die immer nach ihrem Kind schrie. Sein Barmann Dana Ali habe sich um die Schwerverletzte gekümmert, versucht, sie zu beruhigen, sie gestreichelt. Eine andere Familie, die sich zu dem Zeitpunkt mit ihren Kindern auf dem Spielplatz aufgehalten hatte, nahm sich der fünfjährigen Tochter an, die das Drama um ihre Mutter und ihre kleine Schwester hautnah miterleben musste. Ein Helfer berichtete später, dass sich die Eltern kurz zuvor noch selbst mit ihren Kindern im Bereich des Baumes aufgehalten hatten. Alfon Tanushi und die Ersthelfer versuchten verzweifelt, den Baumstamm von dem Kind wegzuheben. "Wir hatten keine Chance."
Diese Machtlosigkeit setzt dem Gastronomen jetzt, wenige Tage danach, massiv zu. "Einer der Bauarbeiter rannte sehr schnell weg", erzählt er weiter, der Arbeiter sei mit einem Tieflader zurückgekommen, hob damit den Baum an, noch bevor Berufsfeuerwehr und weitere Einsatzkräfte eintrafen. Die Männer müssen schnell reagiert haben. Sein Bruder Daniel Tanushi habe das kleine Mädchen hervorgeholt und auf die Wiese gelegt. "Meinem Bruder wurde schlecht, er hat geschrien. Er hat eine Tochter in genau dem Alter. Er sagte, das Mädchen sehe aus wie sein Kind." Tanushi sagt, er habe seinen Bruder noch nie so erlebt. In dem Moment, als Tanushi überprüfen wollte, ob das Mädchen noch lebt, sei der Krankenwagen gekommen. Mit dem Mädchen im Arm lief er ihm entgegen, legte es hinein auf die Liege. "In dem Moment war ich stark." Doch jetzt holen ihn die Bilder ein.
Spielplatz-Unfall: Gerne würde Alfon Tanushi mit der Mutter sprechen
Als sein Bruder, die Mitarbeiter Denis Hyka, Emiliano Spaho, Dana Ali und er erfahren, dass das Kind am Abend im Uniklinikum seinen Verletzungen erlegen ist, ist das für die Männer schwer zu ertragen. "Es wurde geweint." Alfon Tanushi nimmt einen Schluck Espresso. Er muss viel an die schwer verletzte Mutter denken, an die Familie, die ihr Leben lang von diesem Schicksalsschlag gezeichnet sein wird. Der Wirt verspürt den Wunsch, irgendwann einmal mit der Mutter sprechen zu können. "Vielleicht hilft uns beiden das." Am Dienstag, drei Tage nach der Tragödie, ist die Kripo Augsburg mit einem Baumsachverständigen vor Ort. Mit einer Drohne werden Aufnahmen aus der Luft gemacht. Die Ermittler gehen der Frage nach, die viele Menschen beschäftigt: Wie konnte das passieren? Auch Tanushi lässt diese Frage nicht los.
Der 45-Jährige hat derzeit viel Arbeit, wie auch sein Bruder, der in Stadtbergen ein Restaurant führt. "Bei uns ist viel los und seit Corona fehlt Personal." Die Arbeit bringt den Il Gladiatore-Chef auf andere Gedanken, unterdrückt vorübergehend diese Bilder im Kopf. Auch an jenem tragischen Samstag arbeiteten er und sein Team weiter - mit schmutzigen Shirts, Schürfwunden an den Armen und mit Bildern im Kopf, die sie nicht loslassen.