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Augsburg-Pfersee: Urlaub zuhause: Auf den Spuren der Industriegeschichte

Augsburg-Pfersee

Urlaub zuhause: Auf den Spuren der Industriegeschichte

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    Bernhard Kammerer kennt sich in Pfersee bestens aus - und gibt sein Wissen gerne weiter. Bei seiner Führung erzählt er, wie die Industrialisierung die Einwohnerzahl des einstigen Dorfes explodieren ließ.
    Bernhard Kammerer kennt sich in Pfersee bestens aus - und gibt sein Wissen gerne weiter. Bei seiner Führung erzählt er, wie die Industrialisierung die Einwohnerzahl des einstigen Dorfes explodieren ließ. Foto: Ulrich Wagner

    Die einen mögen sich durch das Coronavirus in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Andere wiederum haben Freude daran, ihre Stadt (neu) zu entdecken. Ein attraktives Ausflugziel ist der Stadtteil Pfersee, wo Besucher durch das Neubaugebiet Sheridan und seinen üppigen Park schlendern, die Geschäfte in der Augsburger Straße entdecken, in der Jugendstilkirche Herz Jesu innehalten und ihren Aufenthalt in einem Café oder Restaurant krönen können.

    Urlaub zuhause: Durch die Industrialisierung wurde Pfersee vom Dorf zum Stadtteil

    Ein Abstecher nach Pfersee lohnt sich aber auch für geschichtlich Interessierte. Seit vielen Jahren bringt ihnen der Ur-Pferseer Bernhard Kammerer in verschiedenen Führungen – auch zusammen mit der Volkshochschule – seinen Stadtteil näher. „Wer sich mit Geschichte befasst, sollte mit seiner Heimat beginnen. Denn hier finden sich viele Aspekte der europäischen oder gar Weltgeschichte“, sagt das Vorstandsmitglied der Bürgeraktion Pfersee Schlössle.

    Im Mittelpunkt des Rundgangs, den der 68-jährige Sozialpädagoge für unsere Leser ausgewählt hat, steht die Industrialisierung Pfersees. Sie ließ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einwohnerzahl des einstigen Dorfes explodieren und führte 1911 zur Eingemeindung der bis dahin selbstständigen Gemeinde nach Augsburg. Dieser Schritt erfolgte nicht freiwillig, sondern gezwungermaßen. Pfersee wäre aus eigener Kraft nicht in der Lage gewesen, die nötige Infrastruktur zu schaffen. „Die Industrialisierung hat das Dorf ökologisch und sozial ruiniert“, sagt Kammerer.

    Urlaub zuhause: Tour durch Pfersee

    Geeignet ist der Spaziergang prinzipiell für alle Interessierten, egal ob man als Einzelperson, zu zweit oder mit der Familie unterwegs sind. Allzu klein sollten die begleitenden Kinder nicht sein, für sie ist nichts Spezielles geboten.

    Dauer: Je nach Erkundungslust ist die Tour in ein bis zwei Stunden zu schaffen. Mit dem Rollstuhl ist sie weitgehend machbar. Wer mit der Straßenbahn anreist, steigt am besten an der Haltestelle Augsburger Straße/Herz Jesu aus. Parkplätze sind im Zentrum Pfersees dünn gesät.

    Gastronomie: Wer keinen Proviant dabei hat, findet im Zentrum Pfersees gastronomische Angebote für jeden Geschmack.

    In diesem Teil Pfersees wohnten die Arbeiter.
    In diesem Teil Pfersees wohnten die Arbeiter. Foto: Ulrich Wagner

    Als Startpunkt für seine rund drei Kilometer lange Tour empfiehlt er das Kaufhaus Konrad in der Augsburger Straße oder die weit über den Stadtteil bekannte Jugendstilkirche Herz Jesu. Von dort aus gelangt man über die Franz-Kobinger-Straße rasch in den Pfersee Park. Heute beherbergt das Ensemble vor allem Büros, Praxen, Geschäfte und Restaurants. Fast 100 Jahre – von 1888 bis 1985 – war auf dem Areal die Chemische Fabrik Pfersee der Familie Bernheim beheimatet. Während das Nachfolgeunternehmen heute in Langweid firmiert, wurden die Gebäude der „Chemischen“ für ihren neuen Bestimmungszweck umfunktioniert.

    Nicht überall sind die Spuren der industriellen Vergangenheit noch so gut sichtbar. Entlang des renaturierten Mühlbachs etwa ist vor rund 20 Jahren ein Neubauquartier entstanden – das sogenannte Mühlbachviertel. Bernhard Kammerer zählte damals zu den Pferseern, die mit einem Bürgerbegehren eine dichtere Bebauung verhinderten und für mehr Grün kämpften. An die einst gigantische Spinnerei Weberei Pfersee (SWP) erinnern nur noch eine Pförtnerloge und ein Türbinenhäuschen.

    Die Angestellten der SWP mussten 78 Stunden in der Woche arbeiten

    Kammerer holt einen Ordner hervor und zeigt Fotos von dem 1866 gegründeten Unternehmen, das zu seinen Hochzeiten rund 1500 Beschäftigte zählte und 1992 die Produktion einstellte. Dass die SWP-Arbeiter 1869 streikten, verwundert nicht: „Sie mussten damals 78 Stunden in der Woche, verteilt auf sechs Tage, arbeiten“, sagt der Stadtteil-Kenner.

    Hier stand früher die Spinnerei Weberei Pfersee.
    Hier stand früher die Spinnerei Weberei Pfersee. Foto: Wagner

    Auch auf der anderen Seite der Augsburger Straße gingen die Arbeiter gut 30 Jahre später wegen Niedriglöhnen auf die Straße. Wo einst Raff und Söhne Trikotwaren hergestellt und später unter dem Namen Aura Textilien bedruckt hat, steht heute zwischen Ohnsorg- und Hessenbachstraße die Wohnanlage Wertachpark.

    Ganz in der Nähe ist eine weitere große Wohnanlage im Beton-Stil, das Bemberg-Center, entstanden. An seiner Stelle befand sich bis 1970 ein weiteres bedeutendes Textilunternehmen – Bemberg. Es machte sich mit Kunstseide einen Namen, die es, so Kammerer, „aus allen möglichen Kräutern herstellte“. Mit dem Abriss habe die Deindustrialisierung von Pfersee begonnen, ziemlich genau 100 Jahre nach dem Beginn der Industrialisierung. Auch das Bemberg-Werk 2 in der Hessenbachstraße ist Vergangenheit. Kammerer bedauert sehr, dass dieses Firmengebäude im Bauhausstil vor rund 20 Jahren dem Erdboden gleich gemacht wurde.

    Wohnanlagen statt Industriegebäude: In Pfersee hat sich viel verändert.
    Wohnanlagen statt Industriegebäude: In Pfersee hat sich viel verändert. Foto: Ulrich Wagner

    Architekt Jean Keller schuf zahlreiche bekannte Gebäude in Augsburg

    Eine Ausnahme bildet da die Firma Eberle an der gleichnamigen Straße. Das Backsteingebäude, in dem noch heute Metallbandsägen hergestellt werden, stammt von Jean Keller und wurde 1910 errichtet. Der Architekt schuf zahlreiche Gebäude in Augsburg, neben Fabriken auch das Kurhaus in Göggingen.

    Kammerer wechselt bei seinem Rundgang aber nicht den Stadtteil, sondern nur die Straßenseite, wo die Firma Dierig seit gut 100 Jahren residiert. Die Textilien – vor allem Bettwäsche – werden nicht mehr vor Ort produziert. Die Firma ist noch präsent und hat sich mit Immobilien ein weiteres wichtiges Standbein geschaffen. Zahlreiche Mieter – vom Fitnesstudio bis zur Werkstatt – sind in den Gebäuden der Textilfabrik untergekommen. Doch auch auf dem Dierig-Areal sind Neubauwohnungen entstanden und noch geplant. Kammerer hätte sich auf dem Gelände auch das Textilmuseum gut vorstellen können. „Schade, dass Pfersee es nicht bekommen hat.“

    Das Gebäude der Firma Eberle.
    Das Gebäude der Firma Eberle. Foto: Wagner

    Nach gut zwei Stunden Spaziergang geht es wieder zur Augsburger Straße zurück. Immer wieder hat Kammerer Geschichten und Anekdoten zu den Häusern parat. Es macht aber auch Freude, auf eigene Faust die Architekturstile der unterschiedlichen Epochen zu erkunden – und den Ausflug mit einem Abstecher in einem Restaurant oder Café zu krönen.

    Auch wenn Pfersee noch heute gastronomisch gut aufgestellt ist, gab es früher im Stadtteil viel mehr Wirtshäuser, weiß Kammerer. Oft konnten sich die Arbeiter mit ihren kargen Löhnen eine Einkehr freilich nicht leisten.

    Hier lesen Sie alle Folgen unserer Serie "Urlaub zuhause"

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