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Augsburg: Parallelwelt in Augsburg: Wer sind die Russlanddeutschen?

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Parallelwelt in Augsburg: Wer sind die Russlanddeutschen?

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    Im Univiertel leben viele Menschen aus der früheren Sowjetunion. Sie sind nicht immer beliebt, das zeigt auch der Spitzname „Klein-Moskau“ für das Viertel.
    Im Univiertel leben viele Menschen aus der früheren Sowjetunion. Sie sind nicht immer beliebt, das zeigt auch der Spitzname „Klein-Moskau“ für das Viertel. Foto: Silvio Wyszengrad

    Im Raum Augsburg leben viele Deutsche aus Russland und anderen postsowjetischen Staaten – 25000 Menschen. Die Häufung hat ihren Ursprung in den Übergangswohnheimen der 80er und 90er Jahre wie dem Birkenhof, weiß der Autor Ortfried Kotzian. Aussiedler sind nicht immer beliebt, das zeigt schon der Spitzname „Klein Moskau“ für das Univiertel, wohin wegen der vielen, damals neuen Sozialwohnungen etliche Migranten aus der früheren UdSSR zogen. Auch aktuelle Initiativen wie die „Besorgten Eltern“ gegen Sexualkundeunterricht oder die Anti-Flüchtlings-Demonstration, die hauptsächlich auf Russisch abgehalten wurde, sorgen für Kopfschütteln. Man kommt in

    „Wer sind die Russlanddeutschen?“ fragt Kotzians neues Buch. Der frühere Leiter des Bukowina-Instituts weiß: Selbst viele Deutsche aus Russland wissen wenig über ihre Geschichte. Die aber sei wichtig, um zu verstehen, warum viele von ihnen sich deutsch fühlen, aber auf Einheimische russisch wirken.

    Wer ist rechtlich gesehen ein Deutscher? 

    Ortfried Kotzian war unter anderem Leiter des Bukowina-Instituts.
    Ortfried Kotzian war unter anderem Leiter des Bukowina-Instituts. Foto: Silvio Wyszengrad

    Deshalb erklärt Kotzian die Zusammenhänge, angefangen davon, wer rechtlich gesehen Deutscher ist. Er erklärt auch, warum die Hälfte der Russlanddeutschen besser Russisch als Deutsch spricht: Weil sie die Mundart ihrer alten Heimat sprachen, seit dem Krieg Deutsch an Schulen nicht unterrichtet wurde und Russisch ihre Kontaktsprache war. Kotzian breitet die lange Geschichte der Deutschen in Osteuropa aus – beginnend mit der Ansiedlung von Spezialisten, Handwerkern und Bauern, die die Zaren ab dem 16. Jahrhundert anlockten, um ganze Landstriche zu besiedeln. Vergünstigungen in Russland und Hungersnöte in Deutschland führten zu einer „Auswanderungssucht“. Ganze Siedlungen zogen um.

    Die Deutschen waren fleißig – und kinderreich. 1,8 Millionen lebten im Jahr 1897 im russischen Reich, vor allem im heutigen Polen, im Baltikum, in der Ukraine und dem Schwarzmeergebiet. Integration war kein Thema, ethnisch und sogar konfessionell getrennte Dörfer waren im Vielvölkerstaat Russland die Normalität. Das Leben änderte sich für die Deutschbalten, Schwarzmeer-, Bessarabien-, Wolga-, Wolhynien- und Kaukasusdeutschen aber bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Damals wuchs der Nationalismus im russischen Reich, viele Deutsche wanderten nach Südamerika aus.

    Viele verhungerten in Lagern

    Mit dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges 1941 betrachtete Stalin Deutsche als Kollaborateure Hitlers. Wer von den 2,3 Millionen (Stand 1939) nicht „heim ins Reich“ geholt worden war, wurde ins Lagersystem des Archipel Gulag verschleppt, musste in den Arbeitsarmeen bis 1955 Sklavendienste leisten. Viele verhungerten, erfroren oder starben an Erschöpfung, denn die klimatischen Bedingungen in Sibirien oder Kasachstan waren extrem.

    Auch nach 1955 war „Deutscher“ lange gleichbedeutend mit „Faschist“, schreibt Kotzian. Nur drei Prozent konnten auf eine Hochschule, der Assimilierungsdruck war groß. 95000 Deutsche kamen zwischen 1950 und 1985 in die Bundesrepublik, dann stiegen durch den politischen Wandel die Zahlen. In den Hochzeiten 1992 bis 1996 lagen sie bei jährlich 200000. 2014 waren es noch 5700. Bis Ende 2014 summierte sich das auf 2,4 Millionen Personen.

    In Deutschland erhielten die Aussiedler erhebliche Integrationshilfen, die bei Einheimischen auch für Neid sorgten. Dazu zählten Sprachkurse, Ausbildungshilfen und Lastenausgleich. „Eingliederungshilfen konnten den psychologischen Integrationsprozess nicht ersetzen“, schreibt Kotzian jedoch. Und analysiert die Integrationsschritte, die in einer Langzeitstudie festgestellt wurden.

    Wie lief die Integration ab?

    Auslöser sind Faktoren, die für alle Einwanderer gelten – aktuell Asylbewerber: anfängliche Idealisierung des „Traumlands Deutschland“, Orientierungslosigkeit in einem neuen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, neue Probleme (Wettbewerb, aber auch Freiheit), andere Normen, unter anderem was Konsum, Familie und Individualisierung angeht. Wer es nicht schafft, damit klarzukommen, bleibt in einer Krise stecken.

    Kotzian betont aber auch, dass bei einer Integration alte Werte ergänzt, verändert, aber nicht unbedingt aufgegeben werden müssen. Er weiß, dass bei der ersten Einwanderergeneration die Liebe zur alten Heimat stark ist, während die zweite oft „Bayerischer als die Bayern“ ist – oder aus Frust ins Russische flieht. Die dritte suche nach ihren Wurzeln. Auch für sie hat Kotzian sein Buch geschrieben.

    Buch Ortfried Kotzian „Wer sind die Russlanddeutschen?“, 19,90 Euro. Auslieferung: Förderverein der Deutschen aus Russland, foerderverein@dar-augsburg.de, 08231/349-1953.

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