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Augsburg: Mordprozess Angelika Baron: Verstörende Einblicke in eine Familie

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Mordprozess Angelika Baron: Verstörende Einblicke in eine Familie

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    An dieser Unterführung in Gessertshausen wurde die Leiche von Angelika Baron gefunden. Mehr als 25 Jahre später steht nun Stefan E. vor Gericht.
    An dieser Unterführung in Gessertshausen wurde die Leiche von Angelika Baron gefunden. Mehr als 25 Jahre später steht nun Stefan E. vor Gericht. Foto: Marcus Merk

    Dieser Mordprozess stellt das Gericht vor ein Problem. Denn die Tat, für die ein heute 50 Jahre alter Augsburger seit Dezember vor dem Landgericht auf der Anklagebank sitzt, liegt mehr als 25 Jahre zurück. Im September 1993 findet ein Spaziergänger die Leiche der Prostituierten Angelika Baron. Sie hatte einen Standplatz an der Ackermannstraße. Und der Angeklagte Stefan E., erst 2017 festgenommen, schweigt zu den Vorwürfen. Doch wer kann sich noch genau erinnern, was vor Jahrzehnten geschah?

    Da kann ein Tagebuch helfen. Es ist der 14. Verhandlungstag, als das Gericht Auszüge daraus verliest. Die Schwurgerichtskammer will sich ein Bild vom Angeklagten, seiner Familie machen. Vater und Mutter sind bereits tot. So sind seine sechs Geschwister und einige Ehemänner und Freundinnen als Zeugen geladen. Verfasst hat das Tagebuch eine seiner Schwestern. In Art eines Protokolls gewährt die 71-Jährige ebenso intime wie verstörende Einblicke aus dem Leben einer Großfamilie.

    Mordprozess in Augsburg dauert bereits 14 Verhandlungstage

    Die Schwestern haben früh geheiratet und sind vor ihrer dominanten Mutter geflüchtet. Sie soll sie als Kinder seelisch wie körperlich misshandelt haben. Schon kleine Vergehen wurden geahndet. Teils seien sie ohne Essen und Trinken über Nacht auf dem Dachboden oder im Keller eingesperrt worden. Einmal, so schildert es eine Zeugin, war ihre Mutter außer sich geraten, weil eine für sie bestimmte Kugel Eis, die eines der Mädchen geholt hatte, auf dem Heimweg geschmolzen war.

    Viel Platz nimmt im Tagebuch das Verhältnis der Mutter zum Angeklagten, ihrem jüngsten Sohn, ein. Diese Schwester hat die rund 100 Seiten mit „Die Affenliebe einer Mutter“ überschrieben. Die Mutter hat sich demnach immer schützend vor ihren Sohn gestellt, auch in Zeiten, als dieser im Knast saß. Der Angeklagte hat Maler gelernt, war aber oft arbeitslos. Eine Schwester sagt im Prozess über ihren Bruder, dieser sei faul. Die Mutter, so sind seine Angehörigen überzeugt, hat dem Vater zweier Kinder, der noch bei ihr wohnte, immer wieder Geld zugesteckt. Geld, das sie nicht hatte, sondern sich erbettelt habe – von ihren Kindern, von Nachbarn, der Kirche.

    Hatte der Angeklagte ein Motiv, Angelika Baron zu töten?

    In dem Tagebuch sind Fälle benannt, wo die Schwestern zusammenlegten, um Schulden ihrer Mutter zu begleichen. Es sind Beträge bis zu 750 Mark (knapp 400 Euro). Eines Tages gibt es von ihnen kein Geld mehr. Die Eltern, die hin und wieder klagen, nicht genug zu essen zu haben, werden nur noch mit Lebensmitteln unterstützt. Die Mutter soll sich ab dem Zeitpunkt Geld anderswo geliehen haben. Weil Stefan es für Drogen braucht, wie die Schwestern glauben. Beweise? Als Klaus Rödl, Verteidiger des Angeklagten, nach Fakten fragt, können sie keine nennen. „Ich weiß das vom Hörensagen.“ Von Angehörigen, die an diesem Tag aussagen, ist dieser Satz noch häufiger zu hören. Eine der Schwestern will einmal im Zimmer ihres Bruders eine Spritze gesehen haben. 1998 notierte die Tagebuchschreiberin über den Angeklagten: „Was ist aus ihm geworden:

    Was auffällt: Eine Rentnerin sucht als einzige seiner Geschwister beim Betreten des Gerichtssaals Blickkontakt zum Angeklagten. „Wissen Sie Euer Ehren“, sagt sie, und wendet sich der Vorsitzenden Richterin Susanne Riedel-Mitterwieser zu: „Meine Mutter ist schuld, dass er abgerutscht ist. Sie hat ihm keine Luft zum Atmen gelassen.“ Die 73-Jährige berichtet Bedrückendes aus ihrer Kindheit. „Meine Mutter hat mich nicht einmal gestreichelt oder mir ein Bussi gegeben. Ich war ungeliebt.“ Auch wenn inzwischen viele Jahrzehnte vergangen sind, das Geschehene wühlt die Rentnerin noch immer auf, wie ihre jetzt zitternde Stimme verrät.

    Hatte also der Angeklagte ein Motiv, die Prostituierte zu töten, weil er Geld zum Kauf von Drogen brauchte? Ausgerechnet eine frühere Freundin des Angeklagten, die er mit einem Sohn sitzen gelassen hat, entlastet ihn. Die heute 52-Jährige hatte Stefan E. 1995, zwei Jahre nach dem Mord an Angelika Baron, kennengelernt. Die Zeugin hat ihn als „nett, witzig, lustig und ausgeglichen“ in Erinnerung. Das Paar trennte sich, als sie entdeckte, dass ihr Freund Drogen nahm. Zu Beginn ihrer Beziehung, da ist sich die 52-Jährige heute sicher, habe er keine Drogenprobleme gehabt. „Das hätte ich bemerkt.“ Der Prozess wird fortgesetzt.

    Lesen Sie auch: Der rätselhafte Prostituiertenmord und die Frage der Erinnerung

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