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Augsburg: Mord in Göggingen: Wenn verletzte Ehre fatale Folgen hat

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Mord in Göggingen: Wenn verletzte Ehre fatale Folgen hat

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    Fast ein Jahr ist es her, dass ein 15-Jähriger in der Asylunterkunft Haus Noah in Göggingen sterben musste.
    Fast ein Jahr ist es her, dass ein 15-Jähriger in der Asylunterkunft Haus Noah in Göggingen sterben musste. Foto: Peter Fastl (Archivbild)

    Der 15-Jährige hatte keine Chance zu überleben. Beide Halsschlagadern, zwei große Venen, die Speise- und die Luftröhre waren durchtrennt. Der Angreifer hatte ihm zweimal mit dem Messer den Hals aufgeschlitzt. Der gewaltsame Tod des afghanischen Jungen in der Asylunterkunft Haus Noah im April vergangenen Jahres im Stadtteil Göggingen hatte für Entsetzen gesorgt. Vor dem Augsburger Landgericht muss sich seit Dezember der 30 Jahre alte Schwager des Opfers, Nabi S., verantworten. Er soll auch Eltern und Geschwister des 15-Jährigen an jenem Apriltag in Augsburg mit einem Messer teils lebensgefährlich verletzt haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Mord, versuchten Mord in vier Fällen und gefährliche Körperverletzung vor. Laut Anklage habe Nabi S. es nicht verkraftet, dass sich seine Frau, die älteste Tochter der afghanischen Familie, von ihm getrennt hatte. Er habe sich an der Familie nicht nur rächen wollen.

    Nabi S. muss sich vor dem  Augsburger Landgericht auch wegen Mordes an seinem 15 Jahre alten Schwager verantworten.
    Nabi S. muss sich vor dem Augsburger Landgericht auch wegen Mordes an seinem 15 Jahre alten Schwager verantworten. Foto: Stefan Puchner

    Mordprozess: Der Angeklagte habe seine Ehre wiederherstellen wollen

    Der Afghane wollte damit auch seine Ehre, die er durch die Trennung beschmutzt sah, wiederherstellen, so sieht es die Anklage. Das Thema Ehre ist ein zentraler Punkt in dem Verfahren. Welch erhebliche Rolle sie in patriarchalisch geprägten Kulturen spielen kann, erklärte unlängst vor dem Schöffengericht der 8. Strafkammer ein Sachverständiger des Landeskriminalamts. In patriarchalischen Strukturen habe der Mann eine Art Verfügungsgewalt über seine Frau, erläuterte der Sachverständige des LKA den Prozessbeteiligten. Eine Trennung der Frau ohne Zustimmung ihres Mannes, käme einem Vertragsbruch gleich. Der Ehemann sehe sich in seinen Rechten verletzt. "Das steht unserem Menschenrechtsverständnis entgegen, aber es ist so", sagte der Gutachter, ein studierter Islamwissenschaftler sowie Extremismus- und Terrorismusexperte beim Landeskriminalamt. Für die Vorsitzende Richterin Sabine Konnerth sind diese kulturellen Einblicke für die Bewertung der Bluttat in Göggingen wichtig.

    Er soll Schwager in Augsburger Asylunterkunft gezielt getötet haben

    In der Flüchtlingsunterkunft Haus Noah in Göggingen  hatte die Bluttat im April 2020 für großes Entsetzen gesorgt.
    In der Flüchtlingsunterkunft Haus Noah in Göggingen hatte die Bluttat im April 2020 für großes Entsetzen gesorgt. Foto: Peter Fastl (Archivbild)

    Schließlich wird Nabi S. unter anderem vorgeworfen, seinen Schwager gezielt getötet zu haben, weil dieser der einzig männliche Nachkomme in der Familie seiner Frau war. "Damit konnte und wollte er das Leben etwaiger überlebender Geschädigter mit emotionalem Schmerz erfüllen und deren Leben wenigstens unerträglich qualvoll gestalten", hatte Staatsanwalt Michael Nißl am ersten Verhandlungstag aus der Anklageschrift vorgehalten. Dem Beschuldigten sei der Tod des 15-Jährigen besonders wichtig gewesen, sollte es ihm nicht gelingen, die gesamte Familie auszulöschen.

    Fehler werden wohl nicht bei Männern gesehen

    In einer Familie mit einem traditionellen Verständnis käme den Männern eine besondere Rolle zu, erklärt der LKA-Mitarbeiter. Sie seien für das Verhalten einer Frau und für die Zukunft einer Familie verantwortlich. Wird eine Ehe geschlossen, gehe die Verantwortung für die Frau vom Vater oder Bruder an den Ehemann über. So war es wohl auch im Fall der Ehefrau des Angeklagten. Sie war im Alter von elf Jahren mit ihm verheiratet worden, ihr Vater hatte dem Schwiegersohn eine sogenannte Morgengabe für die Eheschließung gezahlt. Von da an, so wird es während des Prozesses immer wieder deutlich, muss die junge Afghanin in ihrer Ehe durch eine Hölle gegangen sein.

    Ein Großaufgebot an Polizei und Rettungskräften war an jenem Samstagnachmittag in der Flüchtlingsunterkunft im Einsatz.
    Ein Großaufgebot an Polizei und Rettungskräften war an jenem Samstagnachmittag in der Flüchtlingsunterkunft im Einsatz. Foto: Peter Fastl (Archivbild)

    Wie sie und Zeugen berichteten, wurde sie von ihrem offenbar krankhaft eifersüchtigen Mann regelmäßig misshandelt, geschlagen und gedemütigt. "Gibt es in dieser Kultur auch ein fehlerhaftes Verhalten des Mannes?", wollte die Vorsitzende Richterin vom LKA-Experten wissen. "Nein, so etwas ist in diesem Verständnis nicht vorgesehen", antwortete er. "Wenn ein falsches Verhalten vorliegt, dann nur weil die Frau den Mann dazu gebracht hat." Grundsätzlich sei es so: Trenne sich eine Frau ohne Einverständnis, müsse ihre Familie dafür sorgen, dass sie zum Mann zurückkehre. Ein Imam als Vermittler sei ebenso denkbar wie ein finanzieller Ausgleich, um die Ehre des verlassenen Mannes wiederherzustellen. Nichts davon sei jedoch im vorliegenden Fall geschehen.

    Mord in Göggingen wühlt manche afghanischen Familien auf

    Der LKA-Mitarbeiter betonte, dass diese Strukturen jedoch nicht überall in Afghanistan gelten. Dort gebe es zig Kulturen mit unterschiedlichen Prägungen. Auch spiele es eine Rolle, ob eine Familie in einer Stadt oder auf dem Land lebe, wo solche Traditionen meist verhafteter sind. Der Mord in Göggingen und nun der Prozess wühlen einige Afghanen, die in Augsburg eine Heimat gefunden haben, auf. Das wissen etwa Erwin Schletterer, Leiter des Vereins Die Brücke und Yussuf Parhez. "Meine Familie und mich hat dieser Fall sehr beschäftigt", meint der 19-jährige gebürtige Afghane. Nicht nur wegen der Grausamkeit der Tat, sondern auch aus Sorge, dass der Täter ein schlechtes Licht auf alle Afghanen wirft.

    Das Projekt "Heroes" als präventive Arbeit

    Parhez ist ein Teilnehmer des Projekts "Heroes", das die Brücke seit neun Jahren anbietet. Der Verein kümmert sich nicht nur um straffällig gewordene Jugendliche, sondern leistet auch präventive Arbeit wie etwa mit dem Projekt "Heroes – gegen Unterdrückung im Namen der Ehre". Es richtet sich an männliche Jugendliche ab 16 Jahren, die aus sogenannten Ehrenkulturen stammen und etwas bewegen wollen. Sie werden zu sogenannten Heroes ausgebildet und leiten in Schulen und Jugendeinrichtungen Workshops, in denen etwa Gleichberechtigung, Rollenbilder, Menschenrechte und Demokratie thematisiert werden.

    Kerem Demirkan und Yussuf Parhez klären als "Heroes" in Workshops Jugendliche über Gleichberechtigung auf und diskutieren mit ihnen den oft problematischen Umgang mit der Ehre. Sie wollen zu einem Umdenken bewegen.
    Kerem Demirkan und Yussuf Parhez klären als "Heroes" in Workshops Jugendliche über Gleichberechtigung auf und diskutieren mit ihnen den oft problematischen Umgang mit der Ehre. Sie wollen zu einem Umdenken bewegen. Foto: Silvio Wyszengrad

    Kerem Demirkan, der einen türkischen Migrationshintergrund hat, ist seit neun Jahren bei den Heroes. "In vielen Familien werden Kulturen und Wertvorstellungen einfach von der nächsten Generation übernommen, ohne darüber nachzudenken, ob diese richtig sind oder nicht", weiß er aus Erfahrung. "Wir geben hier Jugendlichen Denkanstöße, sagen, dass manche kulturelle Einstellungen längst überholt und auch falsch sind." Der 26-Jährige und der sieben Jahre jüngere Yussuf Parhez sagen, dass sie durch das Projekt selbst viel gelernt haben. Sie finden es wichtig, ihre Erkenntnisse anderen Jugendlichen mitzugeben, damit diese sie in ihre eigenen Familien tragen. Die "Heroes" wollen dazu beitragen, dass diese fatale Vorstellung von Ehre für die jetzige und die nächsten Generationen keine Rolle mehr spielt.

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