Startseite
Icon Pfeil nach unten
Augsburg
Icon Pfeil nach unten

Augsburg/Kissing: Jonathan fehlt: Wie Eltern nach dem Tod ihres Sohnes Antworten suchen

Augsburg/Kissing

Jonathan fehlt: Wie Eltern nach dem Tod ihres Sohnes Antworten suchen

    • |
    Jonathan ist vor etwa einem Jahr am Hochzoller Bahnhof ums Leben gekommen, die Eltern glauben nicht an Selbstmord.
    Jonathan ist vor etwa einem Jahr am Hochzoller Bahnhof ums Leben gekommen, die Eltern glauben nicht an Selbstmord. Foto: Silvio Wyszengrad

    Im Erdgeschoss des Reihenhauses der Familie Heyen liegt ein Handy, das seit Monaten nicht ausgeschaltet worden ist. Es gehörte einem jungen Mann namens Jonathan, und es ist noch alles drauf: Fotos und Apps und Daten, die ein Smartphone so ansammelt, alleine schon, weil man es bei sich trägt. Das Handy ist für Karin Heyen und Markus Renner zu einem Symbol geworden: eine Verbindung zu ihrem Sohn, die niemals abbricht. Aber es ist mehr als das. Vielleicht, so der Gedanke der Eltern, verbirgt sich irgendwo in diesem Handy eine Antwort auf die Frage, warum ihr Sohn vor etwas mehr als einem Jahr am Bahnhof in Augsburg-Hochzoll starb. Vielleicht gibt es endlich eine Antwort.

    Damals, am 9. Februar 2020, klingelte die Polizei in den frühen Morgenstunden bei der Familie in Kissing - zusammen mit einem Mann vom Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes. Jonathan sei gestorben, sagte ein Beamter. Ihr Sohn habe im Bahnhof in Augsburg-Hochzoll auf den Gleisen gelegen, er sei von einem Güterzug erfasst worden, mitten in der Nacht. Karin Heyen und Markus Renner, die Eltern von Jonathan, erinnern sich daran, dass sie wirres Zeug redeten, im Haus herumgingen "wie aufgescheuchte Hühner", wie es Karin Heyen sagt. Daran, dass der Polizist um ein Foto von Jonathan bat. Daran, dass sie der Nachbarin Bescheid gaben, sie möge bitte rüberkommen. Daran, dass für sie eine Welt zusammenbrach, die sich seither nicht wieder zusammengesetzt hat.

    Es ist die schlimmste Erfahrung, die Eltern sich vorstellen können: dass das eigene Kind stirbt. "Es war ein Schock, ein Trauma, der Körper verfällt in einen Notfallbetrieb", sagt Markus Renner. "Es ist die ersten Wochen und Monate alles in Watte. Sonst würde man keinen Tag überleben." Er sitzt an diesem Tag zusammen mit seiner Lebenspartnerin am ihrem Wohnzimmertisch in einem Reihenhaus in Kissing, beide erzählen, wie es ihnen geht, was sie durchgemacht haben, was für Fragen sie zu Jonathans Tod haben, die vielen offenen Fragen. Das Handy ihres toten Sohnes wird in der Küche geladen, es ist angeschaltet, wie immer.

    Tod am Bahnhof in Augsburg-Hochzoll: Wie starb Jonathan Heyen?

    Jonathan war 19, als er starb. Ein junger Mann, den viele im Ort kannten und mochten. Ein junger Mann, der auf die Fachoberschule in Friedberg ging, sein Fachabi machen wollte und stolz darauf war, die Probezeit gerade überstanden zu haben. Der einen großen Freundeskreis hatte, Kumpels aus unterschiedlichen Bereichen, mit denen er viel unternahm. Der seit einiger Zeit gerne mal feiern ging, wie 19-Jährige es so tun. Der den FC Barcelona liebte, den Fußball allgemein, und schon in seiner Kindheit so talentiert gewesen war, dass Borussia Dortmund ihn zum Training einlud, auch unsere Zeitung berichtete damals darüber. Doch Profisportler, sagt seine Mutter, habe ihr Sohn nicht werden wollen, das habe er früh entschieden und genau gewusst.

    Am Bahnhof Hochzoll wurde Jonathan leblos gefunden.
    Am Bahnhof Hochzoll wurde Jonathan leblos gefunden. Foto: Klaus Rainer Krieger (Archivbild)

    In den ersten Wochen nach seinem Tod, sagen seine Eltern, kamen viele Kumpels von ihm vorbei, Freunde der Familie auch. Um sich auszutauschen, über Jonathan zu sprechen, um Anteilnahme auszudrücken und die eigene Fassungslosigkeit und Trauer. Und um zuzuhören. Sie weinten gemeinsam, manchmal lachten sie auch, wenn es um Anekdoten aus Jonathans Leben ging. Das half, sagen seine Eltern. Solche Gesten der Menschlichkeit, sagt Markus Renner, seien bis heute geblieben. Es half beiden auch, die Trauerfeier zu organisieren und die Beerdigung vorzubereiten. Sie sei viel mit ihrer Nachbarin und ihren Hunden Gassi gegangen, sagt Karin Heyen. Irgendwie hangelten sie sich durch die ersten Wochen und Monate. Sie erlebten auch, wie hilfsbereit Menschen in der Not sein können. Der Diakon der örtlichen Gemeinde, die Schulleiterin von Jonathans Schule: Viele Menschen hätten große Unterstützung geboten, sagen seine Eltern. Das brachte sie durch die erste Zeit, doch erträglich war und ist die Situation für die Eltern bis heute nicht. Auch für Jonathans Geschwister, sagt seine Mutter, sei es unfassbar hart.

    Freunde der Familie brachten in den ersten Wochen öfter etwas Warmes zu essen vorbei, unterstützten die Familie im Alltag. "Zum Kochen wären wir gar nicht mehr in der Lage gewesen", sagt Markus Renner. Karin Heyen begab sich in Therapie, bis heute ist sie krankgeschrieben. Die erste Zeit, sagt sie, habe sie "eigentlich gar nichts mehr gemacht, ich konnte nicht essen, nicht rausgehen. Es war ein Aushalten von Tablette zu Tablette". Markus Renner stürzte sich in die Arbeit, um sich abzulenken, um etwas zu tun. Und er begann zu recherchieren, was vor Jonathans Tod passiert sein könnte.

    Tod am Bahnhof: Ermittler haben keine Hinweise auf Fremdverschulden

    Die Polizei habe durch die Umstände des Todes in der Nacht im Februar an einen möglichen Suizid gedacht, sagen Jonathans Eltern. Wofür vor allem sprach, dass Jonathan mitten in der Nacht auf den Gleisen eines Bahnhofs lag. Es gibt für diese Art der Selbsttötung einen eigenen Begriff, "Schienensuizid". War es so? Die Eltern konnten und wollten dies nicht glauben. Nichts, sagen sie heute, habe zuvor darauf hingedeutet, dass ihr Sohn suizidgefährdet war. Nichts deute für sie heute darauf hin. Es gibt Fälle, in denen sich der Suizid eines Menschen auch für nahe Angehörige nicht ankündigt, es keine Hinweise gibt für sie, nur den späteren Schock.

    Aber es gibt eben auch Fälle, in denen ein Todesfall auf den ersten Blick wie eine Selbsttötung aussehen könnte, aber etwas anderes dahinter steckt, zum Beispiel ein unglücklicher Unfall. Und falls es einen Anlass, einen Auslöser, eine dunkle Epoche in Jonathans Leben gegeben haben könnte, wissen Markus Renner und Karin Heyen bis heute nichts davon, trotz aller Ermittlungen. Von der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen zwischenzeitlich eingestellt hat, heißt es auf Anfrage, es gebe jedenfalls "keine Hinweise auf ein schuldhaftes Verhalten Dritter". Für Ermittlungsbehörden ein entscheidendes Kriterium. Das heißt: Es könnte ein Unfall gewesen sein. Aber man weiß es eben nicht genau.

    Die Eltern wollen wissen, was am Bahnhof Augsburg-Hochzoll geschah

    Markus Renner klopfte die Wochen nach Jonathans Tod selbst an einige Türen. Er wertete Fotos aus, schaute sich den Bahnhof Augsburg-Hochzoll an, wieder und wieder, versuchte, die Nacht vor Jonathans Tod zu rekonstruieren. Was sich rekonstruieren lässt, haben die Eltern auf einer Facebook-Seite dargestellt, mit der sie auf weitere Hinweise zum Tod ihres Sohnes hoffen.

    Demnach war Jonathan in der Nacht mit Freunden in Augsburg feiern, man trank etwas, besuchte eine Bar in der Maxstraße, ein normaler Abend von jungen Erwachsenen. Um kurz vor Mitternacht stieg Jonathan in den Zug nach Kissing. Er kam dort allerdings nie an, sondern stieg in Hochzoll alleine aus. Warum, sei bis heute ungeklärt, sagen seine Eltern, und es sei für ihren Sohn auch völlig untypisch gewesen, ohne seine Freunde weiterzuziehen. Nach dem, was die Eltern von Jonathan in Erfahrung gebracht haben, soll ihr Sohn in der Nacht sowohl im Hochzoller Bahnhof als später auch in der Disco "Ostwerk" gesehen worden sein, dort gegen 2.30 Uhr. Eine Stunde später starb er auf den Gleisen am Bahnhof. Es klafft eine Lücke in den Stunden vor Jonathans Tod, die bislang niemand mit Inhalt füllen konnte. Seine Eltern erhoffen sich durch den Aufruf auf Facebook, dass das Rätsel um die Stunden vor seinem Tod gelöst wird. Und es eine Antwort gibt, endlich eine Antwort.

    Die Facebook-Seite der Familie finden Sie hier.

    Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie darüber! Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten - per Telefon, Chat, E-Mail oder im persönlichen Gespräch, auch anonym. Hier finden Sie eine Übersicht.

    Lesen Sie dazu auch:

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden