Augsburgs Welt der Verlorenen befindet sich hinter einem kleinen eingezäunten Areal neben dem Oberhauser Bahnhof. Der einstige Kinderspielplatz ist seit vielen Jahren Treffpunkt der Drogenszene. Auch an diesem eisig kalten Montagvormittag bei minus fünf Grad. Rund 15 Männer stehen in Grüppchen zusammen, unterhalten sich, trinken, rauchen. Ihre Mützen und Kapuzen haben sie tief ins Gesicht gezogen, viele tragen mehrere Schichten Kleidung. Die Kälte ist unerbittlich. Ein paar torkeln, ein Mann sitzt regungslos auf einer Bank, der Kopf ist auf seine Knie gesackt.
Unter den Leuten sind vereinzelt Frauen. Die Menschen sind Süchtige, verschieden alt, meist ohne Arbeit, etliche auch noch obdachlos. Der Platz füllt sich nach und nach. Einige waren vorher noch beim Arzt oder im Krankenhaus, um ihre Ration Methadon zu erhalten. Die Substitutionstherapie soll die Kranken von ihrer Sucht nach und nach befreien. So wie Tom. Der 45-Jährige sagt, "ich habe durch die scheiß Kräutermischungen, die ich konsumiert habe, alles verloren." Bis vor Kurzem war der gelernte Zimmermann und einstige Bundeswehrsoldat noch obdachlos und schlief mit seinem Hund in einem Zelt an der Wertach. Oder Karina.
Diese Geschichten stecken hinter den Menschen Oberhauser Bahnhof
Die 31-Jährige hat zwar eine kleine Wohnung, nach ihrem Methadon-Termin im Bezirkskrankenhaus ist sie aber direkt zum Oberhauser Bahnhof gefahren. "Die Menschen hier sind meine einzigen sozialen Kontakte, die ich habe", erklärt die arbeitslose Verkäuferin, die mit 18 Jahren das erste Mal Heroin ausprobierte. Das gehe hier jedem so, fügt sie hinzu. "Wer will denn mit uns schon was zu tun haben? Wir sind der unterste Rand der Gesellschaft", sagt Karina hart. Umso mehr freut sich die Frau, die ihren Nachnamen nicht nennen will, wenn Inge Sommerreisser vorbeikommt. Neulich erst habe die Augsburgerin ihr eine dicke Winterjacke und eine Mütze an den Oberhauser Bahnhof gebracht. Auch an diesem Montag steht Sommerreisser bei den Menschen, erkundigt sich, wie es ihnen geht und ob sie etwas benötigen. Seit September schon macht die Personalmanagerin das in ihrer Freizeit. Schuld daran ist auch Corona.
Neben ihrem Beruf engagiert sich Sommerreisser schon seit vielen Jahren im sozialen Bereich. Auf Schloss Pichl im Wittelsbacher Land organisiert sie Naturgeisterfeste, arbeitet an Inklusionsprojekten oder mit psychisch Erkrankten. Vieles davon findet seit der Corona-Pandemie jedoch nicht mehr statt. "Das Engagement fehlte mir sehr", meint die 51-Jährige. Als sie über eine Bekannte von den Menschen am Oberhauser Bahnhof erfuhr, sei sie eines Tages einfach dorthin gegangen. "Ich war anfangs schockiert, wie perspektivlos und wie fertig die Menschen sind." Seitdem bringt Sommerreisser den Hilfsbedürftigen gezielt Kleidung, Hundefutter oder auch mal Butterbrezen vorbei. "Nur auf Bedarf und mit Maske und Abstand, es wird auch nichts weggeschmissen", betont die Augsburgerin, die wohl weiß, dass Anwohner, Stadt und Polizei die ehrenamtliche Hilfe kritisch beobachten.
Unterschiedliche private Helfer mit ihren Spenden sorgen für manchen Ärger. Nicht zuletzt, weil sich Sozialarbeiter und Streetworker in ihrer pädagogischen Arbeit konterkariert fühlen. Inge Sommerreisser sagt, sie könne nur für sich sprechen. Was andere Helfer tun, wisse sie nicht. Die 51-Jährige hat nun Kontakt zu den Verantwortlichen des BeTreffs am Oberhauser Bahnhof aufgenommen. Sie steht hinter ihrer Hilfe. "Wenn ich da jemanden mit blauen Fingern sehe, soll ich den etwa erfrieren lassen? Da bringe ich doch lieber ein warmes Paar Handschuhe mit. Wenn ich dafür sorgen kann, dass jemand keine kalten Füße mehr hat, dann macht mich das glücklich." Das Engagement der Personalmanagerin hat sich längst über Facebook herumgesprochen.
Unterstützung für Süchtige am Helmut-Haller-Platz: So helfen Augsburger
Sommerreisser erhält von Bekannten, Fremden und Firmen Spenden in Form von Schlafsäcken, Decken, Schuhen und Hundefutter bis hin zu sämtlichen Kleidungsstücken. Sie nimmt nicht alles, sondern wählt sorgsam aus. "Neulich haben Helfer Sandalen am Oberhauser Bahnhof abgestellt. So etwas ist eine Frechheit", schimpft sie. Man dürfe den Menschen nicht Dinge hinstellen, die kaputt sind oder die sie nicht gebrauchen können, nur weil man zuhause ausmistet. " In ihren Privaträumen ist eine kleine, gut sortierte Kleiderkammer entstanden. Sommerreissers Hilfe zieht inzwischen so weite Kreise, dass sie nicht nur von Spendern auf Facebook kontaktiert wird. Auch Hilfsbedürftige, die nichts mit der Klientel am Oberhauser Bahnhof zu tun haben, schreiben sie an. Eine Frau, die in der Gastronomie als Spülerin arbeitete bis Corona ausbrach, bat etwa um Unterstützung. "Wir stellten ihr Futter für ihren Hund vor die Haustür", berichtet Sommerreisser.
Mit "wir" meint die Augsburgerin Bekannte, die wegen des Lockdowns gerade nicht arbeiten können und mithelfen, wie etwa eine Friseurin, eine Kosmetik-Handelsvertreterin, eine Hotelangestellte oder eine Restaurant-Leiterin." Angesichts der zunehmenden Arbeit überlegt Sommerreisser, langfristig einen gemeinnützigen Verein zu gründen. Doch aktuell gilt ihr Hauptaugenmerk nach wie vor den Süchtigen am Oberhauser Bahnhof. Deren Schicksale berühren sie. Zu einigen von ihnen hat die private Helferin einen guten Draht gefunden. Wie etwa zu Karina. Die 31-Jährige geniert sich ihr gegenüber nicht, von ihrer Drogenkarriere zu erzählen. Für Karina ist es etwas Besonderes, dass sich jemand aufrichtig für sie interessiert. Das sei sie nicht mehr gewöhnt.
Viele der Frauen vom Oberhauser Bahnhof wurden vergewaltigt
Karina berichtet von ihrer psychisch kranken Mutter, dem überforderten Vater, dem Mobbing in der Schule und dass sie im Alter von 14 Jahren vergewaltigt wurde. Karina schaut um sich. "90 Prozent der Frauen hier sind übrigens schon mal Opfer einer Vergewaltigung geworden." Sie fährt fort: "Dann fand ich einen Freund, der Kontakt mit Drogen hatte und schon war die Sache erledigt. Ich fing gleich mit Heroin an." Sie ist sich sicher. "Wäre ich nicht auf H gekommen, hätte ich mich längst umgebracht." Die Süchtigen, erklärt Karina, litten meist zugleich unter schweren Depressionen angesichts ihrer ausweglosen Situation. Wie Ali. Er hatte sich vergangenes Jahr auf die Bahngleise gelegt. Ein Holzkreuz, das an einem Baum am Oberhauser Bahnhof lehnt, und um das Engelsfiguren und Kerzen drapiert sind, erinnert nicht nur an ihn. Es erinnert auch an die anderen, die wegen ihres Drogenkonsums früh starben. Auch der 45 Jahre alte Tom sagt, er leide unter schweren Depressionen.
"Manchmal wache ich nachts auf und muss weinen." Trost findet er dann, wenn sich sein Hund Shando im Schlafsack an ihn kuschelt. Nie im Leben hätte er seinen Hund zurückgelassen, um in einer Notschlafstelle der Stadt übernachten zu können. Dort seien Hunde nicht erlaubt. "Man lässt doch auch sein Kind nicht allein." Tom ist froh, dass Menschen wie Inge Sommerreisser helfen. "Von ihr habe ich einen Schlafsack erhalten, der mir endlich in der Länge passt." Und er ist froh, dass er nach längerer Suche nun über den Sozialdienst katholischer Männer (SKM) eine Unterkunft in einer Pension erhalten hat. Endlich muss er bei diesen bitterkalten Temperaturen nicht länger im Zelt im Gebüsch an der Wertach schlafen.
In seinem eigenen Zimmer wolle er erstmal etwas zur Ruhe kommen. Das Leben auf der Straße kostet Kraft, das Bemühen, einen Weg aus der Sucht zu finden, ebenso. "Bei der Frage, was sein größter Wunsch ist, füllen sich die Augen des großen Mannes mit Tränen. "Endlich mal wieder sauber leben." Schnell dreht er sich weg und geht. Spätestens morgen kommt er wieder. Zu dem kleinen Platz neben dem Oberhauser Bahnhof, der Welt der Verlorenen.
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