Der letzte Kontakt, den Gisela Bauer zu ihrem Mann hat, ist ein kurzes Telefonat. "Das wird wieder", sagt die 60-Jährige noch zum Schluss. Sie will nicht nur ihm, sondern auch sich Mut machen. Zu dem Zeitpunkt liegt Helmut Bauer bereits in der Augsburger Uniklinik. Ein paar Tage später wird der Unternehmer und Mitgründer der Bewegung "Wir sind Augsburg" (WSA) ins künstliche Koma versetzt. Ab da hört Gisela Bauer nie wieder die Stimme ihres Mannes, sie kann ihn kein letztes Mal sehen.
Gisela Bauer betrachtet das Foto, das auf dem langen Tisch im Besprechungszimmer der Hausmeisterfirma steht. Es ist schwarz eingerahmt. Helmut Bauer lacht darauf herzlich. Seine Familie, Freunde und politische Weggefährten beschreiben ihn als einen fröhlichen, positiven Mann. Er habe für seine Mitmenschen ein großes Herz gehabt, sagen sie. Auch die Mitarbeiter haben in ihren Büros Bilder von ihm aufgestellt, in Erinnerung an ihren Chef. "Wir hatten uns nie Sorgen wegen Corona gemacht, keiner von uns litt unter Vorerkrankungen. Man hatte halt Respekt und hielt sich an die Regeln", sagt Gisela Bauer. Gerade ihr Mann sei immer fit gewesen. "Für mich war er Mister Unzerstörbar." Am 8. Dezember 2020 stirbt Helmut Bauer an multiplem Organversagen, eine Folge seiner Covid-19 Erkrankung. Er ist 62 Jahre alt.
Der Corona-Tod kam innerhalb von sechs Wochen
Gisela Bauer erinnert sich gut an ihren letzten gemeinsamen Urlaub im vergangenen Spätsommer. Die zweite Infektionswelle ist noch nicht angerollt, das Leben läuft einigermaßen normal. Das Ehepaar verbringt ein paar Tage in Kroatien, macht auf der Rückreise einen Zwischenstopp am Gardasee. "Helmut wollte sich ein neues, größeres Boot kaufen, damit wir künftig unsere drei Enkelkinder mitnehmen können. Sein Ziel war, weniger in der Firma zu arbeiten und mehr Zeit für die Familie zu haben", erzählt Gisela Bauer. So ganz wahrhaben kann sie es immer noch nicht, dass ihr Ehemann nicht mehr bei ihr ist. Sie sagt, sie fühle sich wie in Watte gepackt, auf Distanz zur unerbittlichen Realität. Der Tod kam innerhalb von sechs Wochen.
Ende Oktober beginnt Helmut Bauer leicht zu husten. Ein Corona-Test fällt positiv aus. Der Familienvater begibt sich daheim in Quarantäne. Das Ehepaar, das zwei erwachsene Kinder hat, bleibt auf Abstand. Gisela Bauer macht ihrem Mann Essen, stellt es ihm vor die Zimmertür. "Auch da machten wir uns keine Sorgen. Helmut hatte in der ersten Woche einmal höheres Fieber, ansonsten nur Erkältungssymptome", berichtet sie. Wo sich Helmut Bauer mit dem Virus angesteckt hat, weiß niemand.
Zum Ende der zweiwöchigen Quarantäne scherzt er am Telefon noch mit einem Mitarbeiter des Gesundheitsamtes, er wolle gerne noch ein paar Tage daheim dranhängen. Am nächsten Morgen bekommt er plötzlich Atemnot. Der Notarzt stellt fest, dass der Sauerstoffgehalt in seinem Blut gesunken ist. Helmut Bauer wird in die Uniklinik gebracht. "Da hatte ich schon ein komisches Gefühl", meint seine Frau. Eine Woche lang bekommt ihr Mann Sauerstoff, dann verschlechtert sich sein Zustand rapide.
Gisela Bauer darf ihren Mann nicht mehr besuchen
Helmut Bauer wird ins künstliche Koma versetzt. Er wird beatmet, ist ab da nicht mehr ansprechbar. Gisela Bauer kämpft mit den Tränen, sie will sich tapfer zeigen. "Ich durfte ihn nicht besuchen. Zweimal am Tag durfte ich anrufen und mich nach ihm erkundigen." Nahezu täglich erfährt sie am Telefon, dass es ihrem Ehemann erneut schlechter geht. Wie gerne wäre sie bei dem Mann am Krankenbett gesessen, mit dem sie seit über 40 Jahren zusammen war, hätte seine Hand gehalten, ihn gestreichelt, mit ihm gesprochen. "Ich bin überzeugt, es hätte ihm im Kampf gegen die Krankheit Kraft gegeben."
Gisela Bauer, Sohn Alexander, Tochter Stefanie und die kleinen Enkel besprechen für den Erkrankten einen MP3-Player. Ex-DSDS-Star Michael Rauscher, dessen Musikkarriere Helmut Bauer managte, singt Lieder für ihn ein. Sie alle hoffen, dass der Patient im Koma ihre Stimmen hören kann, dass sie ihm guttun. Gisela Bauer gibt das Gerät an der Uniklinik ab, bittet Ärzte und Pfleger, ihrem Mann die Kopfhörer aufzusetzen. Sie lächelt. "Seine Werte wurden tatsächlich besser." Leider nur vorübergehend.
Am Vormittag kam der Anruf aus der Augsburger Uniklinik
Am Vormittag des 8. Dezember erhält die 60-Jährige einen Anruf aus der Klinik. "Man sagte mir, dass Helmut die nächste Stunde nicht überleben wird." Gisela Bauer hält inne, wieder steigen ihr Tränen in die Augen. Sie entschuldigt sich dafür, erzählt weiter. "Das Schlimmste für mich war, dass ich ihm nicht zur Seite stehen konnte. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden." Sie weint kurz, fasst sich wieder. Vorwürfe macht sie niemandem. "Corona ist einfach eine Seuche." In der Nacht nach Helmut Bauers Tod fällt in Augsburg Schnee. Es ist der erste Wintereinsatz für den Hausmeisterservice Bauer im Winter 2020 - der erste ohne den Chef. "Für meinen Sohn war das schlimm", sagt Gisela Bauer.
Normalerweise räumt er immer zusammen mit seinem Vater Gehwege und Parkplätze frei. "Es war eine Art Ehrenkodex, dass Helmut sich um den Zoo-Parkplatz kümmerte. Diesmal musste Alexander alleine räumen." Als der 33-Jährige nachts um zwei Uhr ausrückt, hält Gisela Bauer zu ihm am Telefon Standleitung. "Ich wollte ihn in dem Moment nicht alleine lassen, sprach ständig mit ihm." Die Frau, die so unerwartet ihren Mann verlor, ist froh um ihre Kinder. Sie seien ihr eine wichtige Stütze. Erleichtert ist sie auch darüber, dass Sohn und Tochter vom Vater bereits in den Hausmeisterservice und in die Immobilienfirma eingearbeitet wurden. Sie führen die Unternehmen nun fort. Trotz des unbeschreiblichen Verlustes sind Gisela Bauers Gefühle beim Thema Corona zwiegespalten.
"Wir mussten am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich das Virus sein kann. Jeder Mensch, der daran sterben muss, ist einer zu viel", sagt sie mit Nachdruck. Aber sie sehe auch, wie Freunde von ihr um ihre beruflichen Existenzen fürchten. "Ich habe ein offenes Ohr für sie und Verständnis für ihre Sorgen." Gisela Bauer sagt, sie und die Kinder seien froh, dass ihr Mann und ihr Vater das Leben immer in vollen Zügen genossen hatte. "Helmut hatte immer gesagt, wenn er eines Tages mal stirbt, soll niemand traurig sein. Dann soll es eine Party geben mit vielen Menschen, die ihn mögen." Gisela Bauer schaut auf das Porträt ihres verstorbenen Mannes in dem schwarzen Rahmen. "Vielleicht, wenn die Pandemie irgendwann vorbei ist, machen wir eine Gedenkfeier für ihn."
Wie sie mit dem Corona-Tod ihres Vaters Hans-Peter Bogdahn umgeht
Rebecca Haun hat gemeinsam mit ihren Geschwistern überlegt, ob sie die Geschichte ihres Vaters der Öffentlichkeit erzählen soll. Dann entschied sie sich dafür. "Weil dieser Inzidenzwert so abstrakt ist", sagt die 36-Jährige. Ihr Vater Hans-Peter Bogdahn, einst Vorsitzender der ÖDP in Augsburg, starb am 19. Januar auf der Intensivstation der Uniklinik an Corona. Er war gerade mal 60 Jahre alt. Für die Familie ist sein Tod ein schwerer Schicksalsschlag. Rebecca Haun findet es dennoch wichtig, dass zu den Schicksalen der Pandemie Gesichter gezeigt werden. Und es ist ihr ein Anliegen, dass die Gesellschaft einen gemäßigten Mittelweg im Umgang mit dem Virus findet - auch wenn ihr geliebter Vater daran gestorben sei. "Es geht nicht, dass Corona auf Dauer unser aller Leben bestimmt. Denn das Virus verschwindet nicht. Wir müssen lernen, damit zu leben", ist sie überzeugt.
Hans-Peter Bogdahn ist gelernter Krankenpfleger. Erst im vergangenen November tritt der Familienvater seinen neuen Job in der Waldhausklinik in Deuringen, einem Ortsteil von Stadtbergen, an. Bogdahn bewarb sich für eine normale Station. Als er um Unterstützung auf der Covid-19-Abteilung gebeten wird, sei er zunächst hin- und hergerissen, weil er Diabetiker war, erzählt seine Tochter. "Aber mein Vater hatte schon immer ein hohes Verantwortungsgefühl. Er entschied sich dafür. Er sagte, jemand muss doch diese Arbeit machen."
Rebecca Haun, die verheiratet ist und ein kleines Kind hat, hat zu der Zeit wenig Kontakt zu den Eltern. Schließlich ist Lockdown. "Aber mein jüngster Bruder, der noch bei meinen Eltern lebt, erzählte, dass unser Vater abends oft erschöpft nach Hause kam." Die Arbeit in Schutzkleidung muss anstrengend gewesen sein. Haun betont, dass in der Klinik sämtliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden seien, um die Mitarbeiter zu schützen. Das letzte Mal sieht sie ihren Vater an St. Martin im November.
Die Familie trifft sich im Freien - mit Abstand und Lagerfeuer
Die Sozialpädagogin hatte ein Familientreffen im Freien mit Lagerfeuer initiiert. Der Vater liest den Enkeln die Martinsgeschichte vor, es gibt Punsch, die Familie freut sich, - wenn auch mit Abstand - mal wieder zusammen zu sein. "Da dachte ich noch, dass wir uns alle gemeinsam das nächste Mal an Weihnachten sehen", sagt Haun. Am 20. Dezember bekommt Hans-Peter Bogdahn Schüttelfrost, er hustet. Zwei Tage später erhält er das positive Testergebnis, bleibt ab da nur noch im Schlafzimmer, um seine Familie nicht anzustecken. Es geht ihm nicht gut - auch psychisch nicht. "Er bekam Angst vor einem schweren Verlauf und litt unter der Isolation. Er sagte, er fühle sich nicht mehr wie ein Mensch."
Vater schickte Selfies mit Sauerstoffmaske aus der Unklinik
Am 28. Dezember ruft die Familie den Notarzt. Er entscheidet, dass der Vater kein Fall fürs Krankenhaus ist. Einen Tag später kann Hans-Peter Bogdahn schwer atmen, hat Fieber. Nun kommt er in die Uniklinik. Die ersten zwei Tage liegt er mit einer Sauerstoffmaske im Krankenbett. "Er schickte uns noch Selfies und machte Witze, um uns aufzumuntern", berichtet die Tochter. Dann wird Hans-Peter Bogdahn intubiert und ins Koma versetzt. "Für einen Mann seines Alters ging es unglaublich schnell mit ihm bergab, sagte man uns." Haun erzählt, dass der Vater sich immer um sie und um die Geschwister gekümmert habe. Dass sie nun ihren Vater nicht besuchen dürfen, nicht für ihn da sein können, ist für sie schlimm. "Manchmal fiel es uns schwer, am Telefon gegenüber Ärzten und Pflegern Contenance zu bewahren", gesteht Haun. Dabei ist ihnen klar, dass das Pflegepersonal unter einer immensen Belastung arbeitete. Als es dem Vater immer schlechter geht, wollen die Kinder zu ihm.
"Das geht auf keinen Fall, meinte eine Pflegekraft zu meinem Bruder am Telefon." Doch Rebecca Haun bemüht sich weiter. Eine Stationsärztin sagt ihr schließlich am Telefon zu, dass die Geschwister den Vater besuchen dürfen. Als die 36-Jährige und ihre Brüder sämtliche Sicherheitsschleusen in der Uniklinik passiert haben, spürt Rebecca Haun, dass hier "etwas ganz Heftiges passiert". Es herrscht große Unruhe auf den Gängen, sie sieht abgekämpfte Pfleger und Ärzte herumeilen. Trotzdem nehmen sich der Chefarzt und die Stationsärztin Zeit für die Geschwister, erklären ihnen, was im Körper des Vaters passiert, dass seine Lunge so zerstört und vernarbt sei, dass eine Beatmung nicht mehr hilft.
"Sie sagten, es tue ihnen leid, dass sie unseren Vater nicht retten können. Sie waren sehr betroffen. Ich meine, sie müssen so etwas ständig Angehörigen sagen. Das ist doch furchtbar", sagt Haun. Als sie das Zimmer ihres Vaters betreten, fällt ihr auf, wie gepflegt er aussieht. Sie dürfen sich Zeit nehmen für den Abschied, reden mit dem Papa, der im Koma liegt, fassen ihn an, streicheln ihn, weinen. "Das Begreifen mit den Händen, das Fühlen war für mich wichtig. So konnte ich ihn gehen lassen", erzählt Rebecca Haun gefasst.
Rebecca Haun will, dass das Leben weitergeht
Rückblickend ist sie froh, dass sich die Familie am St.-Martin-Tag noch einmal getroffen hatte. "Mein Vater hatte es sehr genossen, sich bei mir danach noch bedankt. Wenn wir das nicht gehabt hätten, wären mir nur WhatsApp-Nachrichten als ein letzter Kontakt geblieben." Zu ihrer schönsten Erinnerung zählt Rebecca Haun jedoch den Tanz mit ihrem Vater an ihrer eigenen Hochzeit und wie ausgelassen die Eltern auch miteinander tanzten. Sie fragt sich, wie viele Hochzeiten wegen Corona verschoben worden seien und wie vielen Bräuten die Gelegenheit genommen worden sei, vielleicht ein letztes Mal mit ihrem Vater zu tanzen. Fast bricht es jetzt aus ihr heraus: "Wollen wir einfach nur überleben oder wollen wir leben?", fragt sie. Wichtig und richtig habe sie es gefunden, ein Jahr lang mit Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren zu versuchen, gegen Corona anzukämpfen. Aber nun müsse man das Fazit ziehen, dass man mit dem Virus leben und damit umgehen muss.
"Wir dürfen vor lauter Sicherheitsmaßnahmen nicht aus den Augen verlieren, was unser Leben lebenswert macht. Ich will nicht, dass das Virus weiterhin unser Leben und das unseres Kindes bestimmt. Und als Angehörige eines an Corona Verstorbenen, finde ich, dass ich das sagen darf." Rebecca Haun trauert um ihren geliebten Vater, aber sie will, dass das Leben weitergeht.
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