Wanda Metzler ist 57 Jahre alt und seit ihrem achten Lebensjahr möchte sie wissen, wer ihr leiblicher Vater ist. Ihre Mutter, die 1989 starb, hat es ihr nicht sagen wollen. Sie ist eine von über 50 Besuchern des Vortrages über Familienforschung im neuen Augsburger Stadtarchiv im Textilviertel. Es ist bereits die vierte Veranstaltung zu diesem Thema, in der sich Laien und Fortgeschrittene Tipps für ihre Recherchen einholen. Familienforschung wird immer beliebter. Elf Millionen investierte die Stadt Augsburg „für eines der modernsten und bedeutendsten Stadtarchive in ganz Deutschland“, wie Kultus-Staatsminister Bernd Sibler in seiner Laudatio zur Preisverleihung des Archivpreises „Bayerischer Janus 2019“ an die Stadt Augsburg in Coburg sagte. Sogar der Brotkäfer, der so viel Gefallen gefunden hatte am Archivbestand in der Fuggerstraße, ist nun verschwunden.
„Wir vermuten, dass der Brotkäfer durch die Nähe zum Stadtmarkt ins Haus kam“, sagt Diplom-Restauratorin Anna Coulon beim Rundgang durch das neue Archiv im Textilviertel. Jetzt sind die 13 Kilometer Archivbestände nur noch ein gefundenes Fressen für Studenten, Wissenschaftler, Historiker, Erbrecht- und Familienforscher. Besonders die Familienforschung hat durch die Recherchemöglichkeiten des Internets einen Boom ausgelöst. Immer mehr Menschen möchten etwas über ihre Herkunft erfahren. Oder einen Familienstammbaum erstellen. Eine Verbindung aus virtueller und analoger Welt, also Internet, Archiv und Eigenrecherche, sind der richtige Weg. So ging auch Wanda Metzler vor, die über DNA-Tests, Internetrecherche und der Forschung im Stadtarchiv immer weiter in ihrer Familiengeschichte vordrang. „Familienforschung ist spannend. Sie ist wie ein guter Roman“, sagt sie. Das Augsburger Stadtarchiv bietet einen besonders umfangreichen Blick in die Vergangenheit. Als ehemals Freie Reichsstadt durfte Augsburg Steuern erheben und verfügte über eine eigene Gerichtsbarkeit, sodass auch darüber Unterlagen vorliegen, die bis ins späte Mittelalter zurückreichen.
So findet man seine Vorfahren
Wie geht man nun vor, will man etwas über seine Herkunft erfahren? „Wir sind immer dankbar, wenn sich Interessierte vorher bei uns per Mail, schriftlich oder telefonisch anmelden. Wenn wir wissen, nach was gesucht wird und welcher Zeitraum betroffen ist, dann können wir besser planen, was wir im Lesesaal vorlegen“, sagt Mario Felkl. Grundsätzlich ist Familienforschung gebührenpflichtig. Aber die Kosten für Recherche und Kopien sind überschaubar.
Seit diesem Jahr dürfen die vorgelegten Unterlagen im Lesesaal fotografiert werden. Eine Einschränkung gibt es bei den Schutzfristen des Archivbestandes. Meldegesetz, Archivgesetz und Personenstandsgesetz regeln den Zugang zu den Unterlagen. Hier wird der Hobbyforscher beraten und ist sich nicht selbst überlassen. Eine weitere Hürde ist das Entziffern alter Schriften. Die Schreibmaschine kam erst ab 1938 in Mode. Auch hier sind die Mitarbeiter des Archivs behilflich. Es werden zudem Kurse angeboten, die gebräuchliche Kurrentschrift lesen zu lernen. So schwer ist es nicht. Eine Vorab-Mail ans Stadtarchiv kann auch einen Weg dorthin ersparen, wenn es um Unterlagen geht, die in einem Kirchenarchiv oder noch im Standesamt zu finden sind.
Standesämter gibt es erst ab 1876 in Bayern. Vor 1876 waren die Pfarreien zuständig, wenn es um Geburt, Taufe, Heirat und den Tod ging. Für die Katholiken ist das Bistumsarchiv Augsburg zuständig und für die evangelisch Gläubigen wird man im Landeskirchlichen Archiv in Nürnberg fündig. Gemäß dem Personenstandsgesetz sind momentan folgende Unterlagen aus dem Standesamt im Stadtarchiv zu finden: Geburten vor 1909, Heiraten vor 1939 und Sterbefälle vor 1989. Es gibt aber noch viele andere Möglichkeiten, im Archiv erfolgreich zu sein.
Im Jahr 1827 führte die Stadtpolizei Augsburg Meldebögen ein. Jede Person, die sich länger als sieben Tage in der Stadt aufhielt, wurde darin erfasst. Akribisch führten die Gendarmen Buch und manche Missetat fand ihren Eintrag im Meldebogen. Damals waren sie ein Überwachungsinstrument, aus heutiger Sicht sind sie Fundgruben. Diese Meldebögen, ab 1928 Karteikarten, wurden bis ins Jahr 1985 geführt und sind im Stadtarchiv vorhanden. Ab 1985 sind alle Daten elektronisch erfasst. Nicht ganz ohne Reibung ging es bei den Eingemeindungen einiger Stadtteile zu. Bei der Gebietsreform 1972 waren die selbstbewussten Gögginger/Neu-Augsburger so sauer, dass sie einen großen Teil ihrer Bürgerunterlagen einfach vernichteten.
In den unglaublichen 13 Kilometern Archivregalen finden sich auch Unterlagen von Nachlässen, Sammlungen und Firmenarchiven. Eine Besonderheit ist das „Zimmermann-Wappenarchiv“. Eine privat erstellte Sammlung von sagenhaften 30000 Familienwappen. Besonders bemerkenswert sind auch die Personalakten städtischer Bediensteter. Sie sind inhaltsreich und mit Bildern der Beschäftigten versehen. Für Familienforschende eine sehr gute Quelle, wenn ein Vorfahre bei der Stadt beschäftigt war. Die Aufgabe des Archivars ist es ja, aus all diesen unterschiedlichen Unterlagen, mit ihren verschiedenen Intentionen, eine sinnvolle Assoziationskette zu bilden, um gute Suchergebnisse zu erzielen.
Bilder in der Jagdschein-Kartei
Ein Beispiel: Findet sich in den vorhandenen Quellen kein Foto eines Gesuchten, der Beruf zeigt aber einen gewissen Status, so gibt es die Möglichkeit in der eher unbedeutenden „Kartei für Jagdscheine“ nachzusehen. Denn diese Karteikarten haben alle ein Foto. Nach einem Bild ihres Vaters wird Wanda Metzler auch bald fragen. Wir haben sie im Stadtarchiv wiedergetroffen und sie ist ihrem Ziel, herauszufinden wer ihr Vater ist, sehr nahe gekommen.
Ihre Spur führte sie nach Berlin. Durch einen DNA-Abgleich fand sie eine Verwandte, die mit ihrer DNA stark übereinstimmte. Jetzt weiß sie, ihr Urgroßvater hieß Karl und Karl hatte einen Sohn namens Max und dieser Max hatte vier Söhne in Augsburg. „Einer dieser Söhne muss mein Vater sein. Ich hätte gern ein Bild von ihm und ich möchte sein Grab besuchen“, sagt eine sehr zufrieden wirkende Familienforscherin. Mario Felkl und Wanda Metzler kennen sich mittlerweile. Felkl ist als Archivar eine Art Vermittler zwischen den Zeiten. Oft findet er das fehlende Stück, den „missing link“, um in einer Erbangelegenheit, bei einem Forschungsprojekt oder wie hier bei einer Familienforschung, das Puzzle zu ergänzen. „Familienforschung liegt im Trend. Wir leben in einer globalisierten Welt, wo die Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln wieder Bedeutung bekommt“, sagt Felkl. Dipl.-Psychologin Dr. Stella Stehle sieht das ähnlich.
Warum suchen die Menschen ihre Ahnen?
Sie ist als familiengerichtliche Sachverständige tätig. In ihrer Praxis hat sie häufig mit Pflegekindern zu tun. Zur Familienforschung sagt sie: „Ob es schon Forschung zu dem Thema oder gesicherte Studien gibt, kann ich nicht sagen. Aber aus meiner Sicht ist das Bedürfnis, die eigene Herkunft zu kennen, tatsächlich tief in uns verankert.“ Besonders Menschen, die adoptiert wurden, würden sich die Frage stellen: Warum haben sie mich weggeben, war ich ihnen nichts wert? Nicht jeder handelt gleich, sagt sie: „Es gibt Menschen, die zeigen äußerlich kein Interesse daran, ihre Herkunft zu erfahren. Hier ist zu vermuten, dass die Angst, etwas vielleicht Unangenehmes über die eigenen Wurzeln zu erfahren, größer ist, als der Wunsch zu wissen, wer Vater oder Mutter ist.“ Wanda Metzler aber will es wissen. Noch ist sie nicht am Ziel. Vielleicht kann ihr Mario Felkl schon bald ein Foto ihres Vaters vorlegen, nach dem sie so lange gesucht hat.
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