Erhard Smutny hat seinen Auftritt akribisch geplant, er hat Fernsehteams, Journalistinnen und Journalisten eingeladen und bei den Nachbarn Werbung gemacht. Vor der ockerfarbenen Kulisse der Fuggereihäuschen will er an diesem Nachmittag Augsburgs Bischof Bertram Meier schweben lassen. Ein Zaubertrick, wie ihn Smutny schon oft aufgeführt hat. Dass der „Schwebling“ ein hoher Geistlicher ist, bringt aber selbst den Profi ins Schwitzen. Der Bischof mag nah dran sein am Himmel, Schweben jedoch will gelernt sein. Am Ende geht alles gut: Der Bischof, naja, hängt in der Luft und Smutny bekommt, was er ein Leben lang so sehr brauchte: Applaus. Man kennt Smutny, 72, besser unter seinem Künstlernamen: Zauberer Hardy. Seine besten Zeiten hatte er in den 70ern, als sein Gesicht von tausenden Kinder-Zauberkästen lächelte, als er mit Franz Joseph Strauß, Udo Lindenberg und den Magiern Siegfried und Roy auf Du und Du war. Heute reicht ihm seine Rente kaum zum Leben, weshalb er vor vier Jahren in die Augsburger Fuggerei zog. Ein Ort, an dem er zur Ruhe kommt, in Würde leben kann, obwohl er, rein monetär gesehen, arm ist. Zu verdanken haben Smutny und etwa 150 weitere Fuggerei-Bewohnerinnen und Bewohner das einem Mann, der einst den Grundstein legte für eine Idee, die bis heute Bestand hat: Jakob Fugger, genannt der Reiche.
Vor fast genau 500 Jahren, am 23. August 1521, unterzeichnete der Augsburger Kaufmann den Stiftungsbrief für seine Fuggerei, die bis heute als die älteste Sozialsiedlung der Welt gilt. Wer dort leben soll, hatte er dabei klar vor Augen: „etlich arm dürfftig burger und inwoner zu Augspurg (...) so offentlich das almusen nit suchen“. Fugger spricht von „ehrenhaften Armen“, was den tausenden Menschen, die seitdem in die Fuggerei ein- und auszogen, gefallen (haben) dürfte: Der Stifter definiert Armut weniger als Makel denn als Notlage, aus der er zumindest einige befreien will.
Wer das verstehen will, muss sich die Umstände von damals vor Augen führen. Der Begriff „Armut“ ist Anfang des 16. Jahrhunderts einem fundamentalen Wandel unterworfen. Man kommt ab von der christlich geprägten Unterstützung aller Mittellosen, stattdessen wird unterschieden zwischen „würdigen“ und „bösen“ Armen. Denen also, die zwar arbeitswillig, aus vielen Gründen aber nicht mehr arbeitsfähig sind, und denen, die einfach nicht anpacken wollen.
Jakob Fugger holt mit seiner Sozialstiftung gleich mehrere hundert dieser „würdigen“ armen Augsburger – 1521 ist das über ein Prozent der Bevölkerung – von der Straße und gibt ihnen für wenig Geld ein Dach über dem Kopf. Seinen Nachkommen verpflichtet er, dieser Aufgabe ebenfalls nachzukommen – und zwar „auf ewig“.
Szenenwechsel. Es ist ein schwül-warmer Augustnachmittag des Jahres 2021, die von Fugger beschworene „Ewigkeit“ dauert mittlerweile 500 Jahre. Maria Elisabeth Gräfin Thun-Fugger hat an dem massiven Holztisch im Senioratsgebäude der Sozialsiedlung Platz genommen. Die Vorsitzende des Fugger’schen Familienseniorats – quasi der Aufsichtsrat der Stiftung – ist eine humorvolle Frau, doch die vergangenen Monate haben ihr zugesetzt.
Die Fuggerei, sagt sie, konnte auch deshalb über fünf Jahrhunderte bestehen, weil ihre finanzielle Grundlage durch zwei Säulen gesichert ist: die Forstwirtschaft und den Tourismus, der in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat. „Dass durch ein Ereignis wie die Corona-Pandemie beide Grundlagen auf einmal wegbrechen würden, damit hatte niemand je gerechnet.“ Dass das ausgerechnet im Jubiläumsjahr für finanzielle Engpässe sorgen würde, auch nicht.
Tatsächlich fehlt einiges Geld in der Kasse. Die Holzpreise sind gesunken im Corona-Jahr 2020. Obwohl sie nun wieder stark angezogen haben, profitieren Waldbesitzer wie die Fugger’schen Stiftungen kaum. Schuld ist eine Verordnung des Bundeslandwirtschaftsministeriums, die den Einschlag von Fichtenholz für das Forstjahr auf 85 Prozent reduziert. Die Erlöse, mit denen die Waldbesitzer vergangene Verluste wettmachen könnten, sind damit dahin. Das ist ein Problem für die Fugger’schen Stiftungen, denn der Unterhalt der Sozialsiedlung kostet jedes Jahr rund eine Million Euro.
"Man will nach all den Jahrhunderten ja nicht die Generation sein, die es in den Sand setzt"Maria Elisabeth Gräfin Thun-Fugger
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Maria Elisabeth Gräfin Thun-Fugger ist deshalb beunruhigt. Das Lebenswerk ihres Vorfahren ist längst auch ihres geworden, aber oft bereitet es ihr schlaflose Nächte. „Man will nach all den Jahrhunderten ja nicht die Generation sein, die es in den Sand setzt“, sagt sie. Zudem haben sich die Herausforderungen geändert: „Es geht nicht mehr allein darum, den Menschen Wohnraum zu geben. Wir müssen mit Gemeinschaftsangeboten und geistigen Impulsen auch dafür sorgen, dass sie nicht vereinsamen.“
Jetzt, in der Urlaubszeit, ist Einsamkeit ein eher abstraktes Thema in der Fuggerei. Sie ist wohl die beliebteste und bekannteste Sehenswürdigkeit in Augsburg, jedes Jahr kommen mehr als 200.000 Gäste, das Eintrittsgeld – 6,50 Euro für Erwachsene – investiert die Stiftung in Erhalt und Modernisierung der Wohnungen. Der Tourismus ist wieder angelaufen, vor allem Individualreisende kommen und spazieren täglich zu Hunderten durch die engen Gassen, fotografieren sich vor dem Brunnen im Zentrum und spitzeln neugierig in Fenster und Gärten der kleinen Häuschen.
Viele wissen wenig über diesen Ort, an dem sie sich befinden, was immer wieder zu skurrilen Dialogen mit Bewohnerinnen und Bewohnern führt. „Mich hat man schon gefragt, wann ich abends nach Hause gehen darf und ob ich kostenlos zu essen bekomme während meiner Arbeitszeit“, erzählt Johanna Grünwald – so, als sei sie Statistin in einem historischen Schaudorf. Das Leben im touristischen Hotspot, es ist auch eine Herausforderung.
Einmal wurde die Sozialsiedlung in der Jakobervorstadt erweitert
Etwa 150 Menschen wohnen aktuell in den 142 Wohnungen der Fuggerei in der Jakobervorstadt. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bietet die Sozialsiedlung damit weniger Menschen Raum als zu ihren Anfängen. Das liegt daran, dass Augsburg auf 300.000 Einwohner gewachsen ist, die Fuggerei aber nur einmal – beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg – um zwei Häuserzeilen erweitert wurde. Andererseits haben sich die Zuschnitte der Wohnungen verändert: Die Unterkunft mit zwei Zimmern, Küche und Bad auf 60 Quadratmetern ist zwar noch Standard, doch es gibt auch Drei- und Vierzimmerwohnungen für Familien mit Kindern.
Vieles aber ist seit der Gründung gleich geblieben. Das Angebot ist nur für Augsburger Bürgerinnen und Bürger gedacht. Sie müssen zwar nicht in der Stadt geboren sein, sollten aber zwei, drei Jahre hier gelebt haben, um Chancen auf eine Wohnung zu haben. Weitere Voraussetzungen für den Einzug sind der katholische Glaube – verbunden mit dem Versprechen, täglich drei Gebete für den Stifter zu sprechen – und der Nachweis der Bedürftigkeit. Wer diese Hürden genommen hat, braucht nur noch ein Quäntchen Glück. Auf die zehn Wohnungen, die im Jahr durch Fluktuation frei werden, bewerben sich bis zu 80 Anwärter, Tendenz steigend.
Die Mietbedingungen in der Sozialsiedlung waren schon im 16. Jahrhundert günstig, heute sind sie es umso mehr. Die Jahreskaltmiete beträgt 88 Cent, weitere 88 Cent für den Fuggereipfarrer sowie die Kosten für Heizung, Strom und Müll kommen hinzu. Der Preis ist damit jener, den Jakob Fugger zu Beginn festgelegt hatte: einen Rheinischen Gulden, was einst dem Wochenlohn eines Handwerkers entsprach. Die Lebenshaltungskosten und Mietpreise auf dem „normalen“ Wohnungsmarkt in Betracht gezogen, leben die Menschen heute damit nahezu umsonst in der Sozialsiedlung.
„Man hat es sich mit der Fuggerei nie leicht gemacht“, sagt Maria Elisabeth Gräfin Thun-Fugger mit Blick auf die Geschichte. Denn natürlich hätte es Anlässe gegeben, Jakob Fuggers Vermächtnis abzuwickeln. 1632 wird die Sozialsiedlung zur Truppenunterkunft der Schweden, die die Bewohnerinnen und Bewohner vertreiben und samt ihrer Pferde dort einziehen. Durch den 30-jährigen Krieg verliert das Stiftungsvermögen an Wert, es wirft keine Zinsen mehr ab. Gerettet wird die Fuggerei nur, weil die Kapital- in eine Liegenschaftsstiftung umgewandelt wird. Fortan investieren die Fugger in Landbesitz, vornehmlich in Wald, um die Einnahmen dauerhaft zu sichern.
In der NS-Zeit droht die Stiftung ihre Eigenständigkeit zu verlieren, in der Augsburger Bombennacht vom Februar 1944 werden zwei Drittel der Häuser zerstört. „Es gibt aus all diesen Jahrhunderten aber keine Dokumente, die belegen würden, dass eine Aufgabe der Stiftung je auch nur eine Überlegung war“, sagt Professor Dietmar Schiersner, wissenschaftlicher Leiter des Fugger-Archivs in Dillingen. Allerdings, fügt er hinzu, hätte die Familie dazu auch keine rechte Legitimation besessen: „Die Stiftung ist nun einmal auf ewige Zeiten angelegt.“
Ob Jakob Fugger ahnte, dass Bedürftigkeit und Wohnungsnot noch 500 Jahre später aktuell sein würden? Fast könnte man an Weitsicht glauben. Hätte er sein Vermächtnis sonst für alle Zeiten festgeschrieben? Das Familienseniorat jedenfalls, bestehend aus je einem Mitglied der drei noch existenten Fuggerlinien, hat bereits die nächste Generation mit in die Verantwortung genommen – und die bringt neue Ideen mit. Denn ihr berühmter Vorfahr legte die Stiftung nicht nur auf ewig an, sondern auch „in exemplum“, also beispielgebend.
Wie kann die Fuggerei auch in anderen Teilen der Welt funktionieren?
Gräfin Thun-Fugger und ihre Mitstreiter im Seniorat – Alexander Erbgraf Fugger-Babenhausen und Maria Theresia Gräfin Fugger von Glött – wollen zum 500. der Sozialsiedlung deshalb auch in die Zukunft blicken und Impulse für eine Vision setzen: Die Fuggerei soll in andere Länder „exportiert“ werden. Wie könnte das funktionieren?
Die Familie hat sich zuletzt viele Gedanken darüber gemacht, was die Fuggerei ausmacht, weshalb sie so lange überdauerte und wie eine neue Stiftung aussehen müsste, um ebenso erfolgreich zu sein. So entstand der „Fuggerei-Code“, der in wenigen Sätzen wesentliche Erkenntnisse zusammenfasst: „Dieser Ort ist ein kuratierter Lebensraum für die Ewigkeit. Für eine minimale spirituelle und monetäre Gegenleistung ermächtigt die Stiftung Bedürftige in der Region, ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen.“
Würden diese Voraussetzungen erfüllt, sagt Gräfin Thun-Fugger, könnte eine Fuggerei der Zukunft irgendwo auf dieser Welt entstehen und helfen, aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen. Welche das sind, soll in den kommenden Monaten mit Expertinnen und Experten, aber auch mit Bürgerinnen und Bürgern diskutiert werden. Die Ergebnisse werden dann Grundlage für zwei konkrete Projekte sein, für die es bereits Interessenten gibt: eine neue Fuggerei in Litauen und eine in Sierra Leone. Auch in Augsburg, hofft Gräfin Thun-Fugger, könnte eine weitere Fuggerei entstehen, diese aber mit dem Schwerpunkt Bildung.
Während im Seniorat die Gedanken kreisen, geht das Leben in der originalen Fuggerei seinen gewohnten Gang. Neugierige kommen und gehen, und die Bewohnerinnen und Bewohner freuen sich auf die Jubiläumswoche, die am Montag startet. Dann wird auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder erwartet, der am Montag eine Festrede in der Sozialsiedlung hält. Erhard Smutny wird sicherlich auch dabei sein. Markus Söder aber darf an diesem Abend auf dem Boden bleiben ...