In der SPD-Fraktion des Neusässer Stadtrats geht erneut eine Ära zu Ende. Nach dem Abschied von Ulrich Englaender, der 27 Jahre lang im Stadtrat war, hört Hildegard Langenecker auf. Sie war in ihrer aktiven Zeit zweimal in Neusäß Bürgermeisterkandidatin. Ein Gespräch mit Rückblick und Ausblick der ehemaligen Lehrerin:
Wie viele Jahre waren Sie im Neusässer Stadtrat?
30,5 Jahre, seit dem 16.11.1989.
Sind Sie damit „Spitzenreiter“ oder war jemand noch länger Mitglied?
Ich bin vermutlich Spitzenreiterin, ich kann mich an keine Stadträtin in Neusäß erinnern, die länger dabei war; mein Kollege Christian Rindsfüßer von der SPD-Fraktion und einige CSU-Männer sind und waren bereits sechs Jahre länger im Stadtrat.
Echte Achtundsechzigerin
Wie sind Sie zur Politik gekommen?
Schon während der Schulzeit, es fing 1966 mit der Diskussion um die Notstandsgesetze an, bis zu meinem Abitur 1968 und danach waren diverse Studentendemonstrationen in München, an denen ich teilnahm. Im Studium habe ich mich in der Fachschaft für mehr Mitbestimmung der Studenten engagiert. Ich fühle mich als echte Achtundsechzigerin.
Warum haben Sie sich für die SPD entschieden?
Ausschlaggebend war die Politik Willy Brandts, der für mich bis heute ein großes Idol ist. Er hat mich und viele andere junge Leute mit seiner Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“ begeistert und hat vor allem die bis dahin in der Politik wenig beteiligten Frauen aufgefordert, politisch tätig zu werden. Ich bin dann 1972 in die SPD eingetreten, um im anstehenden Bundestagswahlkampf aktiv mitzuarbeiten.
War es anfangs schwierig, als junge Frau ernst genommen zu werden?
Ja, im Unterschied zu den Studentengruppierungen an der Uni waren damals die SPD-Ortsvereinsstrukturen nicht gerade frauenfreundlich. Vor allem zu Beginn hätte ich ohne die Unterstützung meines Mannes niemals die Stadtratstätigkeit ausüben können. Gerade die Sitzungen ab 18 Uhr fielen immer in die Zeit der „Fütterung“ und des ins Bettbringens der Kinder.
Seit 1990 war Langenecker ständig Fraktionsvorsitzende
Was waren für Sie die Höhepunkte in ihrer politischen Arbeit?
Schwer zu beantworten. Ich bin 1983 im Kommunalwahlkampf von Dr. Manfred Nozar „aktiviert“ worden und rückte am Ende der Kommunalperiode 1989 in den Stadtrat nach. Seit 1990 bin ich durchgehend Fraktionsvorsitzende und war acht Jahre lang auch Ortsvereinsvorsitzende, eine der ersten in Schwaben. Ich war auch lange Jahre Delegierte auf Kreis- und Landesebene, aber höhere Partei- und Mandatsebenen haben mich nicht interessiert, wären auch familientechnisch nicht zu machen gewesen. Ich kann mich als „Gründungsmutter“ der Partnerschaft mit Eksjö in Schweden bezeichnen, ein Höhepunkt im vielseitigen Austausch war ein Essen mit dem schwedischen Königspaar in Eksjö. Als Minderheitsfraktion kann man auch Erfolg haben, indem man Schlimmes verhindert wie zum Beispiel den Bau einer Schrannenhalle auf dem Wochenmarkt.
Was bleibt Ihnen aus all den Jahren eher negativ in Erinnerung?
Unter anderem der Austritt von Dr. Nozar aus der SPD mit sehr unguten Begleiterscheinungen und sein Wechsel zur CSU als Bürgermeisterkandidat und die Arroganz der CSU in Neusäß.
Was meinen Sie damit?
In meinen 30 Jahren Stadtratszugehörigkeit hat die CSU immer alle stellvertretenden Bürgermeisterposten für sich reklamiert, in vielen anderen Kommunen wurde freiwillig der zweitstärksten Fraktion ein Stellvertreterposten zugestanden. Es gab auch Zeiten während früherer Wahlperioden, in denen uns (der „Opposition“) mehr oder weniger deutlich gesagt wurde, dass es auf unsere Stimmen im Stadtrat nicht ankomme, da die CSU immer die Mehrheit hätte.
Zweimal Bürgermeisterkandidatin
Sie waren ja auch Bürgermeisterkandidatin der SPD. War das im Rückblick eine gute Erfahrung oder eher nicht?
Ich war zweimal Bürgermeisterkandidatin, 1990 und 1996. Die gute Erfahrung war, eine politische Alternative anzubieten, der Kontakt mit den Bürgern, zu lernen, welche Bandbreite Kommunalpolitik beinhaltet und welche vielseitigen Entwicklungen man anstoßen kann. Leider musste ich damals auch feststellen, dass Frauen nicht automatisch Frauen unterstützen und wählen; das hat sich aber deutlich verbessert.
Wenn Sie durch Neusäß laufen, welches erreichte Projekt macht Sie am frohsten?
Das Haus der Musik, nachdem wir jahrelang für bessere Übungsmöglichkeiten der Stadtkapelle gekämpft haben, aber auch die vielen Kinderbetreuungseinrichtungen, die die SPD seit den 1990er- Jahren massiv gefordert haben.
Was fehlt in Neusäß am meisten?
Eine Stadtmitte mit Kulturhaus und Räume für Begegnungsmöglichkeiten aller Altersgruppen, auch in den Stadtteilen.
Was macht Neusäß für Sie lebenswert?
Die überschaubare Größe, die Lage am und im Schmuttertal mit den angrenzenden Wäldern, das Vorhandensein der wichtigsten Versorgungsstrukturen.
Mehr Zeit fürs Reisen
Wenn jetzt die vielen Sitzungen wegfallen, haben Sie ja viel mehr Zeit. Was wollen Sie vor allem machen?
Mehr kulturelle Abendtermine wahrnehmen, noch mehr reisen, vor allem spontane Kurztrips innerhalb Deutschlands, wieder mehr lesen und Musik machen.
Werden Sie die Arbeit als Stadträtin vermissen oder sind Sie eher erleichtert?
Vermissen eher nicht, 30 Jahre sind eine lange Zeit und man hat sehr viel Energie und Freizeit investiert, nicht zu vergessen den oft nervenaufregenden Ärger, den man als „Opposition“ ertragen muss.
Neusäß: Abschiedssitzung abgesagt
Wird Ihre feierliche Verabschiedung wegen Corona anders aussehen?
Die vorgesehene „Abschiedsstadtratssitzung“ am kommenden Mittwoch wurde abgesagt. Der an diesem Tag stattfindende Ältestenrat wird vermutlich über das weitere Vorgehen entscheiden. Wichtiger ist die konstituierende Sitzung des neuen Stadtrats, die innerhalb von 14 Tagen ab dem 1. Mai stattfinden muss.
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