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Gersthofen: Industriepark-Chef: Bei Gasboykott droht Produktionsstopp

Gersthofen

Industriepark-Chef: Bei Gasboykott droht Produktionsstopp

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    Geschäftsführer Holger Amberg vor einem Modell im Foyer, das die Größe des MVV Industrieparks Gersthofen zeigt.
    Geschäftsführer Holger Amberg vor einem Modell im Foyer, das die Größe des MVV Industrieparks Gersthofen zeigt. Foto: Marcus Merk

    Erst Corona und jetzt noch der Ukraine-Krieg. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie abends Nachrichten sehen?
    HOLGER AMBERG: Das ist fürchterlich, unfassbar, dass es so etwas vor unserer Haustür wieder gibt. Mich erschreckt auch die Brutalität des Krieges. Ich versuche allerdings, den Medienkonsum zu dosieren, und schaue mir nicht mehr jede Sondersendung an. Mir geht es in erster Linie darum, Neuigkeiten zu erfahren, auf die ich auch in meiner Position reagieren muss.

    Hat sich Deutschland zu abhängig von Erdgas aus Russland gemacht?
    AMBERG: Diese Entscheidung war davon geprägt, dass man zukünftig weniger CO2 ausstoßen möchte, um die Klimaziele zu erreichen. Hier ist Erdgas nun mal der naheliegendste Weg, gerade wenn man von der Atomenergie und der Kohleverstromung wegkommen möchte.

    Wenn Sie die grausamen Bilder im Fernsehen sehen, können Sie dann Leute verstehen, die ein Boykott von Gas aus Russland fordern?
    AMBERG: Ich kann den großen Drang verstehen, dass man etwas tun will. Doch was kann wirklich etwas ausrichten? Es gibt ja schon eine Vielzahl schwerwiegender Sanktionen gegen Russland. Den Krieg beenden können sie leider nicht, weil Putin über die Waffen und die Truppen für seinen Angriff bereits verfügt und er auch keinen Mangel an Treibstoff und Munition zu befürchten hat. Ein Stopp von Öl- und Gaslieferungen wird meiner Meinung nach diesen Krieg nicht beenden.

    Wie sehr würde ein Engergie-Embargo den Betrieb des MVV Industrieparks Gersthofen treffen?
    AMBERG: Die chemische Industrie hat einen sehr hohen Energiebedarf. Wir können an unserem Standort zwar mit der thermischen Abfallanlage einen Großteil der Energie selbst erzeugen, aber auch diese Anlage benötigt für das Vorheizen des Brennkessels Erdgas, bevor der Abfall verbrannt werden kann. Außerdem betreiben einige unserer Firmen auf dem Gelände Anlagen mit Erdgaseinsatz. Als Energieversorger des Industrieparks benötigen wir das Gas für die Erzeugung von Wärme oder Dampf. Doch die Menge ist so groß, dass es dafür keinen kurzfristigen Ersatz gibt.

    Wie hoch ist der Energieverbrauch im Industriepark?
    AMBERG: Der Dampf, der für die Produktion der Firmen erforderlich ist, beträgt 350.000 Megawattstunden im Jahr, das ist so viel Energie, wie 35.000 Haushalte verbrauchen. Ohne Erdgas gibt es keine Produktion, keine Chemikalien, keine Grundstoffe für wichtige Produkte, etwa für Lebensmittel oder Medikamente. Und es drohen große Mengen von Müll, wenn wir unsere Abfallverwertungsanlage nicht betreiben können. Ohne Erdgas müssten wir die Produktion abstellen. Kurz gesagt, es drohte Kurzarbeit, und die Arbeitsplätze der rund 1200 Beschäftigten und 100 Azubis im Industriepark wären akut gefährdet.

    Gab es das schon einmal, dass Anlagen stillgelegt werden mussten?
    AMBERG: Nein. Wir haben am Standort Anlagen, die sind seit mehr als 70 Jahren nicht einen Tag abgestellt worden. Die Sorge vor fundamentalen Schäden ist da, denn wir haben teilweise zähflüssige Produkte in den Rohrleitungen. Es ist nicht sicher, was passieren würde, wenn wir Prozesse stoppen müssten. Wir gehen davon aus, dass einige Anlagen dauerhaft nicht mehr betrieben werden könnten.

    Wie zufrieden sind Sie mit der bisherigen Haltung des Wirtschaftsministers Habeck, der bei einem Energie-Embargo bremst?
    AMBERG: Das ist für mich der richtige Weg. Solche Entscheidungen muss man ja vom Ziel her denken. Wir würden mit dem Importstopp in erster Linie uns selbst und nicht Putin treffen. Ich habe dir große Sorge, dass die chemische Industrie die Leidtragende wäre. Denn es geht dort um viel mehr als die fast schon romantische Vorstellung von "Frieren für den Frieden" und die Idee, die Temperatur im Wohnzimmer um ein Grad zu senken.

    Sie sagen, kurzfristig ist ein Ersatz für Erdgas nicht machbar. Aber wie sieht es dann langfristig aus? Bereitet sich der Industriepark auf eine Energiewende vor?
    AMBERG: Die regenerativen Energien können ausfallende Lieferungen im Jahr 2022 und 2023 sicher nicht ausgleichen. Zum einen müssen die Anlagen erst genehmigt und gebaut werden, und zum anderen benötigen wir Mengen, die wir mit Windrädern nicht abfangen können. Allein für die bei uns eingesetzte Gasmenge müssten rund zehn Windräder gebaut werden. Außerdem fehlt der chemischen Industrie durch einen Importstopp von Erdgas nicht Strom, sondern Dampf, das heißt, dass die elektrische Energie auch noch umgewandelt werden müsste. Langfristig müssen wir auf Wasserstoff setzen. Die MVV hat das Ziel, bis 2040 CO2-frei zu sein. Das heißt, wir müssen von Erdgas weg und darauf richten wir uns ein.

    Im Industriepark Gersthofen werden verschiedene Berufe ausgebildet.
    Im Industriepark Gersthofen werden verschiedene Berufe ausgebildet. Foto: MVV Industriepark Gersthofen GmbH

    Ein Importstopp von russischem Gas ist das eine, was ist aber, wenn Putin den Gashahn zudreht?
    AMBERG: Wir bereiten uns auf diesen Fall der Fälle vor. Kurzfristig müssten wir Heizöl als Brennstoff verwenden, die Umsetzung bis zum Winter wird aber eine Herausforderung: Die Umstellung auf einen anderen Brennstoff muss geplant, genehmigt und technisch realisiert werden. Das heißt: Produktionsanlagen müssten unter Umständen temporär abgeschaltet werden. Die Rückkehr zu Heizöl wäre allerdings für den Klimaschutz negativ.

    Der Gaspreis steigt ja enorm, was heißt das für Ihr Geschäft und die Kunden?
    AMBERG: Der Preis für eine Megawattstunde Gas liegt aktuell bei etwa 100 Euro, das ist dreimal so viel als im letzten Herbst. Diese Preissteigerungen werden am Ende der Kette der Verbraucher bezahlen. 90 Prozent aller industriell gefertigten Produkte kommen ohne chemische Vorprodukte nicht aus. Es würden im schlimmsten Fall Dinge für den Alltag einfach fehlen.

    Was ist Ihr Wunsch für die nächsten Wochen?
    AMBERG: Das Sterben in der Ukraine muss aufhören, das steht über allem. Aus wirtschaftlicher Sicht geht es darum, Wege zu finden, die Produktion in den nächsten beiden Wintern aufrechtzuerhalten und auf längere Sicht den Ausbau regenerativer Energien zu forcieren. Ein wirtschaftlich am Boden liegendes Deutschland hilft niemandem. Wenn es wirklich zum Frieden irgendeiner Art kommen sollte, können wir nur als wirtschaftliche starkes Land der Ukraine beim Wiederaufbau helfen.

    Zur Person

    Holger Amberg ist einer der beiden Geschäftsführer der MVV Industriepark Gersthofen GmbH, wo derzeit zehn Firmen angesiedelt sind. Die Betriebsfläche macht 35 Hektar aus. Seit 1. Oktober 2009 ist Amberg als Geschäftsführer für die kaufmännisch-administrativen Bereiche verantwortlich.

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