Etwa 300.000 Menschen waren einstmals in die Gaskammern geschickt, von Krankenschwestern zu Tode gespritzt oder systematisch dem schleichenden Hungertod in ihren Pflegeheimen überlassen worden – weil sie geistige oder körperliche Behinderungen hatten, Fürsorge beziehen mussten oder Langzeitarbeitslose waren. Dieses sogenannte „Euthanasie-Programm“ im Dritten Reich gehörte zu den schlimmsten Verbrechen, die die Nationalsozialisten begangen hatten und sollte kurzerhand der Auslöschung „erbkranken Nachwuchses“ dienen. Auch Bewohner des Augsburger Landkreises blieben von diesen Massakern nicht verschont, wie nun in dem Vortrag „Verwaltet. Vergast. Vergessen.“ im Zusmarshauser Pfarrsaal Hildegundis deutlich gemacht wurde.
Franz Josef Merkl von der Stiftung St. Johannes in Schweinspoint sowie Kathrin Bauer von der Gedenkstätte Grafeneck hatten gemeinsam diese menschlichen Tragödien in der Region aufgerollt und mittels zahlreicher Fotografien und Originaldokumenten den Opfern ihre menschliche Identität wiedergegeben.
Was sich im Schloss Grafeneck abspielte
Bevor jedoch auf die Leidtragenden im Landkreis selbst eingegangen wurde, oblag es Kathrin Bauer, den zahlreichen Besuchern darzulegen, wie die systematische Mordmaschinerie von Hitlers Euthanasie-Programm tatsächlich abgelaufen war. Dabei nahm die Expertin insbesondere die nächstgelegene Tötungsanstalt Schloss Grafeneck ins Visier, in welcher in nur einem einzigen Jahr mehr als 10.000 körperlich und geistig behinderte Personen ausgelöscht worden waren. Das ehemalige Schloss war von den Nazis zu einem Wohnkomplex für 100 Täter umfunktioniert worden, ein nahegelegenes Gebäude in eine Ermordungshalle mit Gaskammern und Krematorium, in welcher die sogenannten „Desinfektoren“ und „Leichenbrenner“ ihr grausames Handwerk verrichtet hatten. „Die Opfer wurden direkt von den Heimen in die Gaskammern gebracht“, erklärte Bauer dem Publikum. „Der Antransport erfolgte mit Postbussen. Diese erregten keine Aufmerksamkeit.“
Doch wer waren jene Opfer, die aus dem Augsburger Landkreis stammten? Das hat wiederum Franz Josef Merkl in dem Vortrag offengelegt – so etwa wurde ein Hermann Altstetter aus Dinkelscherben ebenso in die Gaskammern geschickt wie Ludwig Heinle aus Violau oder Peter Aschbacher aus Thierhaupten. Doch insbesondere hatte der Archivar die Lebens- und Leidensgeschichte von Michael L. aufgerollt, dessen Nachnahme auf Wunsch der Nachkommen im Vortrag abgekürzt werden sollte.
Wie Michael L. aus Streitheim zum Opfer der Euthanasie wurde
Den Lebensweg dieses Mordopfers aus dem Zusmarshauser Ortsteil Streitheim hatte der Forscher anhand von einigen aufgestöberten Originaldokumenten relativ genau rekonstruieren können. Mithilfe der Akten wurde das Schicksal von Michael L. vom damaligen Zusmarshauser Bezirksarzt gefällt: „Diagnose: angeborener Schwachsinn“, hatte es laut Merkl im amtsärztlichen Zeugnis geheißen – ein sicheres Todesurteil in jener Zeit.
Michael L. wurde zunächst nach Schweinspoint im Landkreis Donau-Ries in einem Heim für behinderte Menschen untergebracht – die Kosten für die Verpflegung hatte Zusmarshausen tragen müssen. Doch dann hatten die Sammeldeportationen der Nazis begonnen und wie zahlreiche andere Menschen wurde auch Michael L. zunächst nach Günzburg verlegt und dann endgültig abgeholt. Zwar verlor sich seither jegliche Spur von ihm, doch es gilt als relativ sicher, dass Michael L. zusammen mit Dutzenden anderen Opfern den Tod in den Gaskammern von Grafeneck gefunden hatte.
Was wurde aus den Tätern von damals?
Eine besonders bittere Ironie der Geschichte: Anhand eines Dokuments hatte Merkl herausgefunden, dass die Nazis die Sterbeurkunden für die Angehörigen gefälscht und den Todeszeitpunkt in die Zukunft verlegt hatten – um die „Heimkosten“ noch weiterhin zu erheben und somit die Gaskammern zu refinanzieren. Warum Grafeneck nach einem Jahr abrupt wieder geschlossen wurde? Durch die wachsenden Verdachtsvermutungen unter der Bevölkerung, den offenen Protest der katholischen Kirche und nicht zuletzt durch das maßlose Überschreiten der „Zielvorgaben“ des Naziregimes selbst. Am Ende des Spuks stand noch eine Frage im Raum: Was war nach dem Krieg mit all den Euthanasie-Tätern geschehen? Bauer führt zwei Beispiele an: Eine der Krankenschwestern wurde trotz 2000-fachen Mordes begnadigt, ein anderer Arzt gleich wegen 15.000-fachen Mordes angeklagt, dann aber als verhandlungsunfähig eingestuft. Musikalisch angereichert wurde der Vortragsabend in Zusmarshausen auf angemessene Weise von der Violinistin Jana Böck und der Klarinettistin Amelie Mayr.
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