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Reitenbuch: Interview: Wie heute mit Missbrauch in Reitenbuch umgegangen wird

Reitenbuch

Interview: Wie heute mit Missbrauch in Reitenbuch umgegangen wird

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    Jahrelang wurde Peter W. im Kinderheim in Reitenbuch missbraucht. Der Fall schlägt Wellen. 
    Jahrelang wurde Peter W. im Kinderheim in Reitenbuch missbraucht. Der Fall schlägt Wellen.  Foto: Marcus Merk

    Der Fall von Peter W. schlägt Wellen: Ein Bub, der im Kinderheim in Reitenbuch aufwuchs, wurde jahrelang von einem Pfarrer missbraucht. Die Schwester im Heim, der er sich offenbarte, verprügelte ihn. Könnte sich dieser Fall wiederholen? Der Umgang mit dem Thema Missbrauch steht im Mittelpunkt eines Interviews mit Diözesan-Caritasdirektor Domkapitular Andreas Magg, seit 2007 Vorsitzender des Trägervereins Christliche Kinder- und Jugendhilfe. Mit dabei sind Sozialpädagoge Norbert Haban, der seit zehn Jahren das Heim in

    Könnte sich der Fall von Peter W. wiederholen?

    Dr. Andreas Magg: Mehrere Dinge haben sich wesentlich verändert, die solche Vorkommnisse heute nach Möglichkeit ausschließen sollen. Das Erste ist, dass wir ab den 1970er-Jahren eine Professionalisierung des Erzieherberufs hatten. Bis dato waren nicht gelernte Schwestern in Reitenbuch, die teilweise auch überfordert waren. So ein systemisches Problem können Missbrauch oder auch Gewalt fördern. Die Mitarbeiter wurden danach wesentlich besser geschult, so konnte besser auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen werden. Geändert hat sich auch die Struktur der Häuser. Als der Missbrauch vorgefallen ist, müssten ungefähr 100 Kinder allein in Reitenbuch gewesen sein. Heute sind es 40. Es ist familiär geworden in den Wohngruppen, gleichzeitig wurde es vom Ansatz her individueller. Auch beim Personal wird heute genau hingeschaut, weil wir um unsere Geschichte wissen.

    Was bedeutet das?

    Magg: Wenn wir merken, dass etwas vorfällt, das pädagogisch nicht zu verantworten ist, dann trennen wir uns von dem jeweiligen Mitarbeiter. Die Suche nach Personal ist sehr genau und entsprechend auch die Einarbeitung und die Begleitung.

    Hatte sich die Christliche Kinder- und Jugendhilfe tatsächlich schon von Mitarbeitern getrennt?

    Magg: Ja. Dann nämlich, als wir befürchten mussten, dass es zu einer Situation kommen könnte, die einem Kind nicht gerecht wird.

    Auch die gesetzliche Situation hat sich zwischenzeitlich geändert.

    Magg: Wenn wir bei dem Fall des missbrauchten Buben bleiben: Er konnte sich ja nur der Schwester anvertrauen. Damals hätte es die Schwester aber dem Vormund berichten müssen und nur dieser hätte es zur Anzeige bringen können.

    Das heißt, es gab damals nur eine Schaltstelle.

    Magg: Richtig. Nach der Novelle des Jugendhilfegesetzes ist es jetzt so, dass alle Personen, die haupt- oder ehrenamtlich mit Kindern zu tun haben, diesem Buben helfen können. Das kann der Lehrer in der Schule sein, der Hausarzt oder auch der Trainer im Verein. Alle müssen es sogar zur Anzeige bringen. Ich möchte hier eigens zusätzlich darauf hinweisen, dass heute jede kirchliche Einrichtung verpflichtet ist, ein institutionelles Schutzkonzept zur Prävention sexualisierter Gewalt zu implementieren.

    Maria Schwarz: Wer heute etwas hört, der ist verpflichtet, dem auch nachzugehen. Das unterschreiben die Mitarbeiter bei ihrer Einstellung. Das erleben die Kinder tagtäglich. Das ist ganz wesentlich: Sie dürfen etwas sagen. Sie erfahren, dass sie gefragt sind und es zur Sprache bringen, wenn etwas vorgefallen ist.

    Die Schwester damals hatte nicht gehandelt. Was würde heute mit ihr passieren?

    Magg: Sie würde persönlich dafür haften. Sie wäre in der Pflicht, weil sie dem Kind nicht geholfen hat.

    Wie hat sich die Blickweise auf die Kinder verändert?

    Schwarz: In den 60er- und 70er-Jahren sind Kinder ins Heim gekommen, weil es hieß, man müsse die Gesellschaft vor ihnen schützen. Also: Das Kind ist böse, es muss weg. Heute ist das nicht mehr vorstellbar. Wir sagen: Das Kind befindet sich in einer schwierigen Situation, die es nicht verursacht hat. Es ist Aufgabe der Heimerziehung, das Kind zu begleiten und ihm möglichst viele Lebensperspektiven zu eröffnen.

    Damals war das Heim also eine Verwahranstalt?

    Schwarz: Das trifft zu. Heute sind die Kinder doppelt gefragt: Sie müssen sich am Prozess auf dem Weg zu möglichst vielen Lebensperspektiven beteiligen.

    Wie muss man sich das praktisch vorstellen?

    Schwarz: Wenn ein Kind ins Heim kommt, dann gibt es einen Runden Tisch, an dem ein Vertreter des zuständigen Jugendamts, die Eltern oder ein Vormund, das Kind und ein Mitarbeiter des Heims sitzen. Gemeinsam geht es dann um die Frage, was zu tun ist. Diese Gespräche finden jedes halbe Jahr statt. Kinder und Jugendliche sollen ihre eigenen Wünsche äußern. Welche Ziele haben sie? Wollen sie zum Beispiel den Quali machen? Sie können auch sagen, wie und wo sie Unterstützung brauchen. Diese Idee, Kinder zu beteiligen, zieht sich durch unsere ganze Arbeit.

    Hat jedes Kind auch einen direkten Ansprechpartner, bei dem es seine Sorgen loswerden kann?

    Schwarz: Jedes Kind hat einen eigenen Bezugserzieher, der mit dem Kind immer bespricht, was gerade passiert. Er ist Anlaufstelle und Vertrauensperson zugleich. Der missbrauchte Junge von damals hätte heute vier bis fünf Mitarbeiter im Team und den Heimbeirat. Er könnte sich auch an eine offizielle Beschwerdestelle im Heim richten oder könnte an den Kummerkasten schreiben. Er könnte aber auch zum Psychologen oder zum Heimleiter gehen.

    Darauf müssen die Mitarbeiter vorbereitet sein.

    Schwarz: Sie werden altersgerecht geschult. Bei kleinen Kindern geht es sehr viel um Feinfühligkeit, Aufmerksamkeit und Begleitung. Da wird auch eine professionelle Beziehung und Bindung angeboten. Es muss aber auch eine Grenze gewahrt werden, weil wir nicht die Eltern sind.

    Wie sieht das in der Praxis aus?

    Schwarz: Das ist nicht ganz so einfach. Auf der einen Seite gibt man als Erwachsener Zuwendung, streichelt ein Kind zum Beispiel. Auf der anderen Seite muss aber auch klar sein, dass die Grenzen gewahrt werden. Das gilt für die erwachsene Person genauso wie für das Kind. Die Vertrautheit darf nie so sein, dass die gebotene Distanz zwischen den nicht-elterlichen Erwachsenen und dem Kind durchbrochen wird. Ein Beispiel: Wenn ein Kind die eigene Mutter an der Brust berührt, wird das die Mutter nicht stören. Es drückt eine natürliche Nähe aus. Aber das darf bei uns nicht passieren.

    Was ist denn erlaubt und was nicht?

    Schwarz: Das beginnt beim Kosenamen. Der ist bei uns nicht erlaubt. Die zweite Grenze ist, dass wir zum Beispiel bei der Pflege im Intimbereich von Kindern alles nach dem Vier-Augen-Prinzip machen. Ein Mitarbeiter lässt die Türe offen, damit ein anderer die Situation mitverfolgen kann. Kinder werden grundsätzlich nicht alleine in ein Erzieherbüro genommen und dann die Türen verschlossen. Bei Ferienfahrten sind wir immer paritätisch besetzt.

    Wie ist es, wenn die Kinder in die Pubertät kommen?

    Schwarz: Dann können sich zum Beispiel Mädchen selbst aussuchen, wem sie was erzählen wollen. Wen sie das erste Mal zum Frauenarzt mitnehmen wollen.

    Der Missbrauch von Peter W. fand außerhalb des Heims statt. Wie beobachten Sie heute, was außerhalb der Mauern des Josefheims passiert?

    Norbert Haban: Wir legen sehr viel Wert darauf, dass unsere Kinder raus kommen. Dass sie zum Beispiel in Vereinen sind. Sie werden anfangs begleitet und natürlich beobachtet. Es gibt ein Dokumentationssystem, durch das sofort auffällt, wenn sich ein Kind anders verhält. Es hilft auch ein Fachdienst mit. Übrigens: Die Dokumentation kann auch nicht gelöscht werden. Als Heimleiter kenne ich außerdem alle Kinder und Mitarbeiter persönlich. Natürlich kooperieren wir mit den Schulen. Sogar mit den Busfahrern, die uns über die Kinder berichten. Wenn etwas wäre, dann würde das schnell auffallen.

    Kinder reagieren nach einem Missbrauch unterschiedlich: Die einen sind extrovertiert, andere kapseln sich ein.

    Haban: Jedes Kind reagiert unterschiedlich auf Wahrnehmungen. Das ist die große Kunst, dann herauszufiltern: Was steckt da dahinter?

    Schwarz: Leider bringen Kinder oft schon Erfahrungen mit. Sie sind bei uns, weil zum Beispiel innerhalb der Familie etwas vorgefallen war.

    Haban: Es geht bei uns auch präventiv um das Thema Missbrauch. Gerade in der Pubertät ist Sexualität allgemein ein Thema: Was ist normal und was nicht? Wie kann ich mich wehren und es anzeigen?

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