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Foto: Ulrich Wirth
Foto: Ulrich Wirth

In der Uniklinik Augsburg werden derzeit über 20 Corona-Patienten auf der Intensivstation betreut.

Augsburg
20.11.2021

Pfarrer auf Corona-Station: "Manchmal weinen wir zusammen"

Von Philipp Kinne

Einsame Patienten, belastete Pflegekräfte: Pfarrer Reiner Hartmann ist Seelsorger auf einer Corona-Station im Augsburger Uniklinikum. Er sagt: "Die Frustration unter den Mitarbeitern ist riesig."

Herr Hartmann, Sie sind Seelsorger am Augsburger Uniklinikum. Wie sieht ihre Arbeit dort aus?

Reiner Hartmann: Wir verstehen uns als Lebensbegleiter. Es geht darum, ein Gespräch anzubieten. Menschen können mir ihre Geschichten erzählen und sich aussprechen. Mein großer Vorteil als Seelsorger ist, dass ich Zeit habe. Denn Zeit ist eine knappe Ressource im Gesundheitssystem und fehlt dem Klinikpersonal. Als Seelsorger bin ich für alle da. Für Patienten, Schwestern und Pfleger bis hin zur Reinigungskraft.

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Foto: Marcus Merk
Foto: Marcus Merk

"Die Lage spitzt sich zu", sagt Seelsorger Reiner Hartmann mit Blick auf die Situation auf der Corona-Station.

Mit welchen Themen kommen diese Menschen zu Ihnen?

Hartmann: Das kann die Angst vor der Operation sein, die Wut vor scheinbar misslungenen Behandlungen oder Trauer darüber, dass man nicht mehr gesund nach Hause kommen wird. Es geht auch um die Sorge der Angehörigen um ihre Liebsten oder die der Mitarbeiter um ihre Patienten. Wenn der Arzt nicht mehr helfen kann, kommen viele Patienten zu mir. Manche hoffen auf ein Wunder und ich glaube mit ihnen, dass solche möglich sind.

Müssen die Menschen, die zu Ihnen kommen gläubig sein?

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Hartmann: Nein, ganz und gar nicht. Ich will ich allen mit größter Offenheit begegnen. Aber ich stelle fest: Wenn es ganz ernst wird und Patienten sich vom Tod konfrontieren lassen müssen, tun sich gläubige Menschen oft leichter.

Wie nehmen Sie den Menschen die Angst vor dem Tod?

Hartmann: Indem ich den Gedanken an den Tod zulasse. Hoffnung kann der Gedanke daran machen, dass es etwas gibt, das größer ist als dieses Leben. Ohne Glaube gibt es keine Hoffnung über den Tod hinaus. Dieser Gedanke ist ein Angebot, den ich mache. Ich akzeptiere aber auch, wenn ihn jemand nicht teilt. Wenn Menschen nur in ihrer Verzweiflung sind, dann halte ich diese Verzweiflung mit aus. Wir akzeptieren den Tod, und manchmal weinen wir zusammen.

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Ihre Intensivstation ist eine der ersten gewesen, die zur Corona-Station umgewandelt wurde. Wie hat sich Ihre Arbeit dort verändert?

Hartmann: Mit Maske und Schutzbrille verschwindet die Mimik. Das macht die Arbeit mühsamer und distanzierter. Auf der Station gibt es auch viele Patienten, die nicht mehr reden, weil sie an einer Herz-Lungen-Maschine angeschlossen sind. Da ist kein Gespräch möglich. Verändert hat sich auch, dass die Patienten in der Regel nicht von Angehörigen besucht werden dürfen. Das führt zu Einsamkeit. Als Seelsorger habe ich aber Zugang. Aktuell gibt es zum Beispiel einen Patienten auf der Intensivstation, dessen Familie mich gebeten hat, ihn zu besuchen. Dann bete ich für ihn, spreche mit ihm oder halte einfach nur seine Hand. Seine Angehörigen haben ihm eine CD mit guten Wünschen und seiner Lieblingsmusik aufgenommen. Ich bin überzeugt, dass das manche Patienten das auch in dieser Situation mitbekommen.

Wie schätzen Sie die Lage auf der Corona-Station aktuell ein?

Hartmann: Die Lage spitzt sich zu. Intensivplätze werden immer knapper. Es ist wirklich dramatisch. Die Angst ist groß, dass bald der Punkt kommt, an dem man auswählen muss, wer einen Platz auf der Intensivstation bekommt und wer nicht. Das ist schrecklich.

Wie geht es den Pflegern und Ärzten angesichts dieses schlimmen Szenarios?

Hartmann: Die Frustration unter den Mitarbeitern ist riesig. Vor allem weil klar ist, dass die Lage nicht so schlimm sein müsste, wenn sich mehr Menschen impfen lassen würden. Auf der Intensivstation, die ich betreue, liegen aktuell ausschließlich Menschen ohne Impfung. Auch die Angst vor Ansteckung unter den Mitarbeitern ist groß. Denn manche stecken sich trotz der Schutzmaßnahmen an.

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Foto: Marcus Merk
Foto: Marcus Merk

"Ohne Glaube gibt es keine Hoffnung über den Tod hinaus", sagt Pfarrer und Klinikseelsorger Reiner Hartmann.

Haben Sie selbst keine Angst vor Ansteckung?

Hartmann: Angst habe ich keine. Ich bin geimpft und mache regelmäßig Tests. Bei den Besuchen trage ich einen Schutzmantel, FFP3-Maske, Handschuhe, Haube und Schutzbrille.

Ändert sich die Meinung der Menschen ohne Impfung, wenn sie auf der Intensivstation landen?

Hartmann: Sowohl als auch. Es gibt Patienten, die leugnen Corona beharrlich bis zum Tod. Da bin ich fassungslos. Ich weiß aber auch, dass diese Leute mit Vernunft nicht mehr zu überzeugen sind. Ich versuche dann, aus meiner Erfahrung zu berichten. Denn ich habe erlebt, dass es 50-Jährige ohne Vorerkrankungen gibt, die an Corona sterben, weil sie nicht geimpft sind. Was mich besonders ärgert, sind Gespräche mit Leuten, die behaupten, dass die Regierung bewusst Plätze auf der Intensivstation verknappt. Die Pflegenden im Klinikum sind am Limit. Denen geht die Luft aus. Es ist doch so: Das Personal - und damit auch die Krankenhausbetten - sind knapp, weil die Arbeit unglaublich belastend ist.

Hat sich Ihr Blick auf die Pandemie durch die Arbeit auf der Corona-Station verändert?

Hartmann: Ja. Anfangs war ich zurückhaltender, was die ganzen Maßnahmen angeht. Mittlerweile muss ich sagen: Ich respektiere die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, aber das fällt mir immer schwerer. Ich sehe, dass es keinen Weg aus dieser Pandemie ohne Impfung gibt. Die Impfung schützt die allermeisten vor der Hospitalisierung. Angesichts der Belastung des Personals am Klinikum muss sich jeder ohne Impfung fragen: Was tue ich diesen Menschen an? Es ist unsolidarisch, sich nicht impfen zu lassen.

Ständig mit dem Tod konfrontiert zu sein ist sicher auch für Sie nicht einfach. Brauchen Sie selbst einen Seelsorger?

Hartmann: Ich brauche sicherlich Ausgleich zu meiner Arbeit als Seelsorger. Wichtig ist, dass man mit Situationen abschließen und existenzielle Themen gut aushalten kann. Wenn ich das nicht könnte, wäre Seelsorger der falsche Beruf. Ich merke, wenn ich das Klinikum verlasse, kann ich das Erlebte gut hinter mir lassen.

Gelingt das immer?

Hartmann: Es gibt Situationen, da kommen mir die Tränen. Ich erinnere mich an eine schwangere Frau, die an Corona erkrankte. Das Kind konnte gerettet werden, aber die junge Mutter starb. Die ganze Station war sehr betroffen. Solche Situationen sind auch für mich belastend. Ich bin nicht gerne der Todesengel, auch wenn das natürlich zu meinem Beruf gehört. Wenn alles Kämpfen nichts mehr hilft, bin ich Todesengel. Das sind keine schönen Momente. Die gibt es aber auch. Bei aller Traurigkeit und Verzweiflung, manchmal lachen wir auch zusammen.

Haben Sie ein Beispiel?

Hartmann: Ein Ritual, das ich anbiete, ist die Krankensalbung, früher sagte man letzte Ölung. Dabei werden die Stirn und die Hände des Patienten gesalbt. Währenddessen stellte ich plötzlich fest, dass ich die falschen Hände gesalbt habe. Nämlich die der Ehefrau, die ihrem Mann die Hand hielt. Wir konnten alle zusammen darüber lachen. Das war sogar in solch einer schweren Situation sehr befreiend.

Zur Person: Reiner Hartmann ist katholischer Pfarrer. Er ist Pfarrer der Autobahnkirche in Adelsried und arbeitet auch als Klinikseelsorger an der Augsburger Uniklinik. Hartmann ist im Kreis Lindau aufgewachsen, hat in Augsburg studiert und lebt in der Innenstadt.

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