Die Pfeile sind 25 bis 70 Zentimeter lang, bestehen aus einem Carbon-Schaft und einer Metallspitze. Abgefeuert werden sie mit einem Druckluftgerät, das aussieht wie ein Gewehr. Sie haben enorme Durchschlagskraft und – so ist die Staatsanwaltschaft überzeugt: Diese Pfeile können auch töten.
Am 28. August vergangenen Jahres, 12 Uhr mittags, wurden zwei Männer – ein Lkw-Fahrer und ein Handwerker – in Nordendorf wie aus heiterem Himmel von je einem dieser Druckluftpfeile getroffen. Zum Glück erlitten sie keine lebensgefährlichen Verletzungen. Der Mann, der die beiden Passanten unvermittelt angriff, steht seit gestern wegen versuchten Mordes vor dem Augsburger Schwurgericht. Er kann am Ende nicht bestraft werden, da er zur Tatzeit unter Verfolgungswahn litt und als schuldunfähig gilt. Der 35-Jährige wird voraussichtlich auf Dauer in die Psychiatrie eingewiesen.
Pfeilschüsse: Nordendorfer kommt voraussichtlich in die Psychiatrie
Markus K. (Name geändert), Brille, groß gewachsen, Bauchansatz, die dunklen Haare nach vorne in die Stirn gekämmt, hat ein jungenhaftes Gesicht. Nach der Tat saß er eine Woche lang im Gefängnis München-Stadelheim, danach wurde er in das Bezirkskrankenhaus Günzburg verlegt. In einem so genanten Unterbringungsverfahren vor der 8. Strafammer des Landgerichts unter Vorsitz von Susanne Riedel-Mitterwieser lässt Markus K. zuerst seinen Verteidiger Walter Rubach sprechen. Eine Erklärung, in der er sich entschuldigt und die Taten bedauert. Dann schildert er selbst dem Gericht, von welchen Gefühlen und Eindrücken er offenbar jahrlang geplagt war, wie sich seine Ängste immer mehr steigerten, wie er Stimmen hörte und er dann am Tattag glaubte, Mitglieder des Rockerclubs „Hells Angels“ wollten ihn töten. Wie er die Kontrolle verlor und dann auf die beiden Passanten schoss, die er für potentielle Angreifer hielt.
Weiten Raum in der Gedankenwelt des Software-Spezialisten nehmen Erlebnisse im Augsburger Nachtleben ein, die er noch heute für real hält. In den Clubs wähnte er Menschenhändler, die merkwürdige Zeichen gaben, junge Frauen mit K.O-Tropfen willenlos machten, aus den Lokalen führten und zur Prostitution zwangen. Er habe einmal, so erzählt Markus K., sich eine Flasche mit Bier schnappen können, diese dann in Wien untersuchen lassen. „Darin waren diese K.O-Tropfen“, behauptet er.
Später sei er dann Mitgliedern der „Hells Angels“ vorgestellt worden, Leuten, „die böse blickten“, hinter denen er die Organisierte Kriminalität vermutete. Markus K. war irgendwann auch überzeugt, „fremdbestimmt“ zu sein. In den Tagen vor der Pfeil-Attacke steigerten sich seine Ängste. Er hörte Stimmen im Kopf, brachte zurückliegende geheimnisvolle Ereignisse wie den Zusammenbruch der Stromversorgung in seinem Haus auf einen bald bevorstehenden tödlichen Angriff gegen ihn in Verbindung.
Mutmaßlicher Pfeilschütze litt offenbar unter Verfolgungswahn
Weil er sich bedroht fühlte, stattete er das Haus, in dem er lebte, mit einer teuren Alarmanlage und zahlreichen Überwachungskameras aus. Und er machte sich im Internet kundig, welche Waffen man „für den Notfall“ legal kaufen kann. So erstand er zwei Armbrüste und mehrere der Druckluftpistolen, die nicht unter das Waffengesetz fallen. Im Garten übte er, schoss die Pfeile auf eine Schaumstoff-Zielscheibe. „Ich war von diesen Geräten fasziniert, über die Gefährlichkeit habe ich mir keine Gedanken gemacht“, räumt Markus K. ein.
Am Tattag, so schildert der 35-Jährige, habe er starke Schmerzen im Kieferbereich gehabt, Medikamente und Kokain genommen. Die Stimmen, die er wieder in seinem Kopf vernahm, hätten sich gesteigert. Er habe geglaubt, jetzt kämen die „Hells Angels“, die Kampfmaschinen, und würden ihn töten. „Jetzt bist Du dran“, habe ihm eine Stimme gesagt. Als er draußen den Lkw sah, habe er einen Angriff vermutet. „Ich geriet in Panik und wusste mir nicht mehr zu helfen“. Vom Balkon aus schoss er einen Pfeil ab, der in den Rahmen oberhalb der Fahrerkabine eindrang. Ein zweiter Pfeil ließ die Scheibe platzen.
Der polnische Fahrer einer sächsischen Spedition, der kurz zuvor bei einem Handwerksbetrieb Fensterrahmen abgeliefert und gerade sein Navi neu programmiert hatte, verließ das Führerhaus. In diesem Augenblick war Markus K. mit zwei Druckluftwaffen auf die Straße gegangen, um unter der Plane des Lkw nach möglichen weiteren Angreifern zu suchen. „Ich sah den Mann, wie er auf mich zielte. Ich drehte mich weg, da traf mich ein Pfeil, der in der linken Schulter stecken blieb. Es war wie ein Schlag, dann wurden die Schmerzen immer stärker“, schildert der 49-jährige Pole dem Gericht. In Todesangst flüchtete er sich in einen Nachbarsgarten. Der 49-Jährige war sechs Tage in der Uni-Klinik, sechs Wochen arbeitsunfähig.
Beschuldigtem wird zweifacher Mordversuch vorgeworfen
Kurz darauf kam der ebenfalls völlig ahnungslose Handwerker, 40, mit seinem Kastenwagen angefahren, dem die Fensterrahmen geliefert worden waren. Er bemerkte die kaputte Scheibe des Lkw, stieg aus. „Ich sah auf dem Balkon jemand in einem grünen T-Shirt stehen. Dann spürte ich einen Schlag, fühlte warmes Blut am Mund und sah einen Pfeil auf dem Grünstreifen liegen.“ Das Geschoss hatte die Unterlippe des Handwerkers durchschlagen. Das Opfer wurde fünf Tage im Krankenhaus behandelt.
Der 40-Jährige, begleitet von seinem Anwalt Rüdiger Prestel, leidet immer noch unter den Folgen der Pfeilattacke. Weil Nerven durchtrennt wurden, hat er im Mundbereich kein Gefühl mehr. Eine Narbe verdeckt er jetzt mit einem Bart. Den Tatort meidet er. Insgesamt schoss Markus K. wohl sechs Pfeile ab. Staatsanwalt Michael Nißl wirft dem Beschuldigten zweifachen Mordversuch und gefährliche Körperverletzung vor. Das Verfahren ist auf sechs Verhandlungstage terminiert und wird am 17. Juli fortgesetzt.
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