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Neusäß: Wie der kleine Flüchtlingsbub an Ansehen gewann

Neusäß

Wie der kleine Flüchtlingsbub an Ansehen gewann

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    Als siebenjähriger Bub kam Karl Heinz Thume mit seiner Mutter im Jahr 1949 in die Region, nachdem der Vater kurz zuvor eine Arbeitsstelle gefunden hatte. Zunächst wohnte die Familie, die aus dem heutigen Tschechien vertrieben wurde, in der Firnhaberau, später fand sie eine Wohnung im Domviertel.
    Als siebenjähriger Bub kam Karl Heinz Thume mit seiner Mutter im Jahr 1949 in die Region, nachdem der Vater kurz zuvor eine Arbeitsstelle gefunden hatte. Zunächst wohnte die Familie, die aus dem heutigen Tschechien vertrieben wurde, in der Firnhaberau, später fand sie eine Wohnung im Domviertel. Foto: Marcus Merk

    Nach einigen Umwegen gelangte Karl Heinz Thume, damals sieben Jahre alt, mit seiner Mutter Ende 1949 in die Siedlung Firnhaberau am Rand von Augsburg, die damals vorwiegend von MAN-Arbeitern bewohnt war. „Mein Vater hatte bereits zwei Monate vorher eine feste Arbeitsstelle gefunden. Eine freundliche Familie mit drei Töchtern vermietete uns ein Zimmer mit acht Quadratmetern, in dem wir kochten, lebten und schliefen. Die Familie war sehr bemüht, uns die räumliche Enge erträglich zu machen, indem sie uns im Haus und vor allem im Garten viel Freiraum gewährte. Ich bekam sogar als Siebenjähriger ein eigenes Beet zugewiesen und der Hausherr erklärte mir, wie ich möglichst viel Ertrag daraus gewinnen konnte.

    Familien wie diese waren allerdings seltene Ausnahmen. Die meisten Bewohner hielten uns für Russen oder Tschechen, die aus Lehmhütten kamen, was meine Eltern sehr schmerzte, da wir aus Bad Teplitz-Schönau stammten, dem ältesten Kurbad Böhmens, einem Treffpunkt des europäischen Adels und der europäischen Kultur. Goethe, Beethoven oder auch Casanova waren hier unter anderem zu Gast gewesen.“

    Die Vertriebenen seien aber durchaus nicht immer freundlich aufgenommen worden, obwohl sie doch genau wie andere den Krieg durchlebt und durchlitten hätten und nun dem in Trümmern liegenden Deutschland beim Aufbau halfen. „Die katholische Kirche am Ort kümmerte sich nicht um die Vertriebenen, nur eine evangelische Kriegswitwe ist mir in positiver Erinnerung. Auch mein später eintreffender Großvater war eine Ausnahme: Er wurde von der Leitung der örtlichen SPD als altes Mitglied freundlich aufgenommen, man verschaffte ihm auch immer wieder kleine Verdienstmöglichkeiten“, erinnert sich Karl Heinz Thume.

    „Nach 16 Monaten fanden meine Eltern eine Unterkunft mit zwei Zimmern in einem anderen Siedlerhaus, in dem eher die üblichen Verhältnisse herrschten: Wir durften das Haus nur durch den Hühnerhof (mit aggressivem Hahn) betreten, mussten die Schuhe auf der Kellertreppe lassen und durften keine Besuche empfangen. Obwohl ich ein ruhiges Kind war, das viel las, sollte ich nach dem Essen möglichst aus dem Haus. Es war bitter, wenn man eine Mutter in der Nachbarschaft sagen hörte: ‚Was will denn der schon wieder da, du darfst ja auch nie zu dem!‘“

    Mehr Ansehen gewann ich allerdings bei einigen Eltern, als ich mich als guter Schüler entpuppte, dem der Lehrer dringend den Übertritt ans Gymnasium empfahl. Dabei ist klarzustellen, dass die mir bekannten sogenannten Flüchtlinge in unserer Umgebung alle berufstätig waren, Miete bezahlten und den Siedlern halfen, ihr Haus abzuzahlen. Als ich später öfters meine Tante im Domviertel besuchte, fiel mir dort eine weit positivere Haltung den Vertriebenen gegenüber auf.“ Denn das sei durchaus nicht immer der Fall gewesen, erinnert sich Karl Heinz Thume. Sehr häufig seien sie als „Russen“, „Tschechen“ oder „Polacken“ bezeichnet worden, die aus primitiven Verhältnissen kommend von Deutschland profitieren wollten.

    Dabei habe man dieselbe Sprache gesprochen, kam aus demselben Kulturkreis und habe nach dem gemeinsamen Leid des Kriegs zusammen hoffnungsvoll in die Zukunft gesehen. „1955 erfuhr mein Vater auf dem Wohnungsamt, dass wir seit 1951 Miete für größere Räumlichkeiten bezahlt hatten. Der Betrug hatte allerdings den Vorteil, dass wir auf der Dringlichkeitsliste nach vorne rückten und im Sommer 1955 eine richtige Wohnung im Domviertel beziehen konnten. Wir fühlten uns wie im Himmel, besonders meine schwerkranke Mutter, deren Herz durch die ständigen Aufregungen und Schikanen immer mehr geschwächt worden war. Leider war ihr Glück nicht mehr von langer Dauer: Sie starb im November 1957.“ (jah)

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