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Meitingen: Vertrieben – wie soll man dieses Gefühl erklären?

Meitingen

Vertrieben – wie soll man dieses Gefühl erklären?

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    Aus seiner Zeit als Heimatvertriebener im Landkreis Augsburg berichtet Ernst Kukula aus Meitingen
    Aus seiner Zeit als Heimatvertriebener im Landkreis Augsburg berichtet Ernst Kukula aus Meitingen Foto: Marcus Merk

    „Was es bedeutet, die Heimat zu verlieren, lässt sich kaum beschreiben“ sagt Ernst Kukula und versucht es mit einem Vergleich. „Vielleicht so, als wenn ein kranker Mensch einem Gesunden erklären will, was Kranksein bedeutet.“

    Die Erinnerungen des 82-jährigen Meitingers an die Vertreibung sind sehr lebendig. Er wuchs im mährischen Müglitz auf einem Bauernhof auf, der seit 1823 im Familienbesitz war. „Im Herbst 1945 zeigte mir die Mutter eine tschechische Zeitung und sagte, dass wir Deutschen das Land verlassen müssen“ erinnert er sich und antwortete ihr damals als Elfjähriger tröstend: „Das glaube ich nicht, so viele Waggone gibt es ja nicht“.

    Ende April 1946 ging der Transportzug ab – mit den Eltern, der fünfjährigen Schwester und drei Großeltern. Die schriftliche Anzeige hierfür kam am Karfreitag. Ernst Kukula besitzt sie heute noch. Mit 50 Kilogramm Gepäck in einer Truhe und Taschen mit doppeltem Boden zum Verstecken einiger Wertsachen fuhren sie unbekanntem Ziel entgegen. Erst im Durchgangslager Furth im Wald habe er während der Durchgangsbehandlung den Stempel „Zielbahnhof Augsburg“ entdeckt, den Ort Meitingen hörte er zum ersten Mal bei der Ankunft.

    „Dort teilten wir uns nach einem freundlichen Empfang mit etwa 200 Personen ein Strohlager in der Gemeindehalle“, erinnert er sich. Am nächsten Tag erfolgte die Verteilung auf den Altlandkreis Wertingen. Für seine Familie führte der Weg auf einem offenen Lastwagen nach Langenreichen. Der damalige Bürgermeister Steiner kam, kratzte sich am Ohr und fragte: „Wo tean ma denn die na?“ Ein unverständlicher Hausname fiel und sie wurden zum ersten Haus am Ortseingang gebracht. „Der Fahrer lud unser Hab und Gut unter der großen Linde ab und wir warteten lange auf die Heimkehr der Bauersleute, die dann verstört an uns vorbei gingen“, erinnert sich Ernst Kukula. Nach einer Beratung kehrten sie zurück. „Wir bekamen je ein Zimmer für die mütterlichen Großeltern und für unsere Familie. Die väterliche Großmutter wurde anderweitig untergebracht. Wir verbrachten einige Jahre in diesem spärlich eingerichteten Zimmer mit 15 Quadratmetern, die mitgebrachte Truhe diente als Sitzgelegenheit. Später wies man in dieses Bauernhaus noch eine Frau mit ihren alten Eltern ein, sodass aus ursprünglich drei Bewohnern zwölf wurden.“

    Das Leben und die Integration in der neuen Heimat seien nicht einfach gewesen, berichtet er weiter, „oft fehlte den Einheimischen das Verständnis für unsere Situation und Herkunft. Aber es war auch Herzlichkeit vorhanden.“ Während die Familie in Müglitz als Bauern keine Not kannte, kämpfte sie nun mit knappen Lebensmittelrationen der Bezugsscheine. Der Vater arbeitete für 30 Reichsmark im Monat in der Landwirtschaft, den gleichen Betrag gab es nochmals für die Großeltern von der Fürsorge. „Gutes Organisieren sorgte dafür, dass wir einigermaßen satt wurden“, blickt er zurück. Für ihn als wissbegierigen Jungen sei es besonders schlimm gewesen, dass er keine Bücher hatte. Schon der Abbruch der weiterführenden Schule in der alten Heimat war schmerzlich, in Langenreichen folgte wieder eine Schulunterbrechung wegen Lehrermangels. Aus Mitleid gab ihm eine im Ort ansässige Prager Sprachlehrerin Englischunterricht. Sein einziges Lesematerial war die Tageszeitung der Bauersleute, die er heimlich nach Abwerfen durch den Türschlitz auf dem Fußboden liegend studierte.

    Trotz der Widrigkeiten gelang es ihm, „eine Linie im Leben zu finden“. Er schloss ein Fachhochschulstudium ab und machte beruflich Karriere bei der Justiz. Die Familie zog 1962 in ein Eigenheim nach Meitingen, 1989 heiratete Ernst Kukula seine Frau Rosemarie (heimatvertrieben aus dem Böhmerwald). Er zieht Bilanz: „Die Vertreibung bot mir eine gewisse Chance, die ich als Landwirt in Müglitz nicht gehabt hätte.“ Dennoch bleibt mit dem Verlust der Heimat ein schmerzhaftes Gefühl, das er mit „Entwurzeln und dem Herausreißen aus der Gesellschaft, nicht mit dem Verlust des Eigentums“ interpretiert. Es ist ihm ein Anliegen, dass die Geschichte aufgearbeitet wird und nicht in Vergessenheit gerät. Heute hält er Vorträge bei Studenten und hat auch am deutsch-tschechischen Buch „Sudetengeschichten“ über die Universität Augsburg mitgewirkt. Mit seiner alten Heimat unterhält er bis heute Kontakt.

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