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Landkreis Augsburg: Sexueller Missbrauch: Das Schweigen der Opfer

Landkreis Augsburg

Sexueller Missbrauch: Das Schweigen der Opfer

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    Über 40 Jahre hatte Peter W. (Name geändert) geschwiegen. Er wollte verdrängen, was damals im Pfarrhaus in Reitenbuch passiert ist.
    Über 40 Jahre hatte Peter W. (Name geändert) geschwiegen. Er wollte verdrängen, was damals im Pfarrhaus in Reitenbuch passiert ist. Foto: Marcus Merk

    Über 40 Jahre hatte Peter W. (Name geändert) geschwiegen. Er wollte verdrängen, was damals im Pfarrhaus in Reitenbuch passiert ist: Ein Ruhestandsgeistlicher hatte ihn missbraucht und vergewaltigt. Vier Jahre lang, zweimal in der Woche, musste der Bub aus dem Kinderheim alles über sich ergehen lassen. Erst jetzt kann Peter W. mit anderen Menschen darüber reden. Warum erst jetzt?

    „Ich habe mich geschämt. Ich habe mir selbst die Schuld gegeben“, sagt der 57-jährige. Er ist kein Einzelfall. Oft dauert es Jahre, bis Opfer ihr Schweigen brechen.

    18-Jährige wurde vom Fahrlehrer vergewaltigt

    Im Fall einer jungen Frau aus dem Landkreis waren es mehr als zehn Jahre. Als 18-Jährige wurde sie 2005 von einem Fahrlehrer vergewaltigt. Der zwischenzeitlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilte Mann hatte sie eingeladen, die bestandene Fahrprüfung zu feiern – dann machte er sich über die junge Frau her. In der Gerichtsverhandlung verglich die Frau den inneren Prozess bis zum Tag, an dem alles zur sprache kam, so: Die in vielen Bildern abgespeicherte Erinnerungen seien wie Maiskörner in einer verschlossenen Schublade. Nach vielen Jahren seien die Körner aufgeploppt. Die Schublade habe sich nicht mehr schließen lassen. „Ich konnte es nicht mehr verdrängen“, sagte die Frau 2018 am Amtsgericht Augsburg. Was damals passiert sei, habe sie als 18-Jährige zunächst nicht einordnen können. „Ich habe abgespeichert, wie es war, habe es aber nicht analysiert. Das Wort Vergewaltigung konnte ich nicht aussprechen.“

    Noch bedrückender wird es für Opfer, wenn die Täter aus dem eigenen Familienkreis kommen. „Es kostet wahnsinnige Überwindung, gegen seinen eigenen Eltern vorzugehen“, sagt die Augsburger Rechtsanwältin Marion Zech, die vor Gericht vielen Opfern in der Nebenklage zur Seite steht. Vor zwei Jahren vertrat sie eine junge Frau aus dem westlichen Landkreis, die als Mädchen von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater immer wieder drakonisch bestraft wurde. Die Erziehungsberechtigten sperrten das Kind regelmäßig in eine winzige Abstellkammer ein, ketteten sie an einen Stuhl, streuten ihr Salz in die Unterhose oder zwangen sie, zur Strafe scharfe Peperoni zu essen. Das Mädchen konnte sich damals niemandem anvertrauen.

    Auch Angst kann eine Rolle spielen

    Wie bei Fällen von sexuellem Missbrauch hätten Kinder oftmals ein ambivalentes Verhältnis zu den Tätern, erklärt Anwältin Marion Zech. „Sie spüren auf der einen Seite, dass da etwas nicht in Ordnung ist, dass da etwas nicht stimmt. Auf der anderen Seite verspüren sie auch eine gewisse Zuneigung zum Täter.“ Auch Angst könne eine Rolle spielen: Dann nämlich, wenn beispielsweise der Täter ganz perfide eine Schuld ausspricht: „Wenn du Mama etwas sagst, dann komme ich ins Gefängnis und du ins Heim.“

    Den Mut, sich anderen mitzuteilen, hätten Opfer als Erwachsene, so Zech. Oder wenn sie fühlten, dass sie Opfer gehört und ernst genommen werden, erklärt Helgard van Hüllenvom bayerischen Vorstand des Weißen Rings. Die Juristin aus Oberbayern ist seit 2012 außerdem Stellvertretende Bundesvorsitzende des Weißen Rings ist und Vizepräsidentin der europäischen Dachorganisation für Opferhilfe. „Es ist wichtig, dass Opfer mit Respekt und Anerkennung wahrgenommen werden“, sagt Helgard van Hüllen. Es bestehe aber kein Zweifel, dass Opfer ihre belastenenden Erinnerungen „bewusst oder unbewusst ins sich verkapseln und dann beiseite schieben, um überhaupt leben zu können“ – auch viele Jahre später.

    Die Gespräche waren eine Befreiung für ihn

    Helgard van Hüllen erinnert an viele Frauen, die nach dem Weltkrieg vergewaltigt wurden. Über ihrem Leben habe sich ein Nebel gelegen, der sich erst wieder auflöst. Bei Peter W., der jahrelang von einem Ruhestandsgeistlichen missbraucht wurde, waren es über 40 Jahre. Die Erinnerungen hatten sich so lange auf seine Gesundheit niedergeschlagen, bis er nicht mehr arbeiten konnte. Jetzt hofft er auf eine finanzielle Entschädigung durch die Kirche, damit er sein Alter nicht in Armut verbringen muss. Die Gespräche über die Vorfälle in den 1970er-Jahren beim zwischenzeitlich verstorbenen Pfarrer seien eine Befreiung für ihn gewesen. „Mir geht es jetzt besser“, sagte Peter W. beim letzten Gespräch. Vielleicht könnten jetzt auch andere Opfer den Mut aufbringen, ihr Schweigen zu brechen.

    • So geht’s weiter Der Fall von Peter W. wird in einer Themenreihe fortgesetzt. Demnächst geht es um die Frage, wie die Kirche Opfern hilft. Und: Wie sieht Prävention heute aus, welche Möglichkeiten haben Kinder in Heimen?
    • Lesen Sie dazu auch unseren Artikel: Pfarrer machte Bub im Kinderheim Reitenbuch das Leben zur Hölle
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