Nachdem das Kinderheim in Reitenbuch in den Fokus eines Missbrauchsskandals rückte, werden nun auch Fälle aus dem Marienheim in Baschenegg bekannt. Fünf Opfer meldeten sich bei der neu eingerichteten Expertengruppe, welche die Vorfälle in der Zeit von 1950 bis 1985 aufklären soll. Die Leiterin dieser Gruppe, die frühere Richterin Elisabeth Mette , spricht von „körperlichen Übergriffen “. Weitere Erkenntnisse zu den Vorfällen in Baschenegg liegen bislang nicht vor. Gemeldet haben sich auch neue Opfer aus dem Kinderheim in Reitenbuch .
Vor rund drei Wochen wurden Missbrauchsopfer erstmals dazu aufgerufen, sich an die Expertenkommission zu wenden . Zwölf weitere Opfer aus dem Heim in Reitenbuch haben sich seither gemeldet, erklärt Elisabeth Mette auf Nachfrage. Zusätzlich sind zahlreiche Hinweise von Zeugen eingegangen. Die meisten berichten von körperlicher, ein Opfer von sexueller Gewalt. Insgesamt geht die Aufklärungsgruppe damit bislang von 28 Betroffenen aus. Die Dunkelziffer dürfte allerdings größer sein. Wie nach und nach bekannt wird, hatte der Missbrauch im Kinderheim Reitenbuch offenbar System. Jahrelang wurden dort Kinder körperlich und sexuell missbraucht. Auch bei unserer Redaktion meldeten sich mehrere Missbrauchsopfer.
Opfer erzählt: „Besonders die ersten Jahre waren sehr schlimm“
Stefanie S. (Name geändert) lebte als Kind zusammen mit ihrem Bruder bis Mitte der 70er-Jahre im Kinderheim Reitenbuch . „Besonders die ersten Jahre waren sehr schlimm“, erzählt sie. Eine Ordensschwester habe sie gequält. Sie habe einmal ihr eigenes Erbrochenes essen müssen, berichtet die heute 58-Jährige. Im Winter habe sie zur Strafe stundenlang in sommerlicher Kleidung draußen bleiben müssen. Auch Schläge waren an der Tagesordnung. Nun, viele Jahre nach diesen Ereignissen, will Stefanie S. darüber sprechen. Wie sie hatte auch Peter W. (Name geändert) jahrzehntelang geschwiegen.
Der heute 57-Jährige wurde als Kind jahrelang von einem Ruhestandsgeistlichen missbraucht und vergewaltigt. Der Priester hatte sein Opfer zu sich gelockt, um besondere Übungsstunden für den Ministrantendienst abzuhalten. Doch aus diesem Angebot wurden schwere Übergriffe , die Peter W. sein Leben lang zeichnen sollten. Er ist kein Einzelfall.
Die Erinnerung lastet auch auf einem Mann, der wie Peter W. in den 1970er-Jahren im Heim untergebracht war. Der Ruhestandsgeistliche bat den Buben, ihm bei der Pflege der Bienenstöcke zu helfen. Er habe sich ins Gras gelegt und ihn dann aufgefordert, mit ihm das Summen der Insekten anzuhören. Daraufhin griff der Erwachsene dem Kind zwischen die Beine. „Ich konnte damals gar nicht beurteilen, was da passierte und bin weggelaufen“, erinnert sich der Mann heute. Der Übergriff wiederholte sich. Der Bub habe dem Geistlichen dann im Reflex ins Gesicht geschlagen. Der erklärte, dass er niemandem etwas erzählen dürfe – es werde ihm ohnehin niemand glauben. „Ich habe es auch niemandem erzählt.“
Über die Täter aus Reitenbuch und Baschenegg ist bislang wenig bekannt
Über die Täter der damaligen Zeit ist bislang wenig bekannt. Es wird davon ausgegangen, dass drei Geistliche sich in den Jahren von 1956 bis 1983 an Kindern in Reitenbuch vergangen haben. Außerdem gibt es Hinweise, dass Ordensschwestern sowie sonstige im Kinderheim Beschäftigte und ein Nachbar des Heims Kinder missbraucht haben. Ob es Hinweise auf weitere Täter gibt, die noch leben, könne „angesichts des Stands der Aufklärungsarbeit“ noch nicht beantwortet werden, teilt Projektleiterin Mette mit.
Die Dillinger Franziskanerinnen hatten damals die Einrichtung geleitet. Nach Auskunft der Diözese sind die Franziskanerinnen ein Orden päpstlichen Rechts, der damit nicht der diözesanen Dienst- oder Stiftungsaufsicht untersteht. Die Franziskanerinnen hatten sich „beschämt und erschüttert“ gezeigt, als vor knapp zehn Jahren erstmals Vorwürfe laut geworden waren. Damals hatten sieben ehemalige Heimkinder teils mit eidesstattlicher Versicherung über ihre Leidenszeit berichtet. Einige der Ordensschwestern von damals sind noch am Leben.
In den kommenden Wochen und Monaten soll es ausführliche Gespräche zwischen Vertretern der Expertengruppe und den Opfern geben. Diese Anhörungen stehen gerade erst am Anfang, sagt Projektleiterin Elisabeth Mette : „Wir planen derzeit, unsere Erkenntnisse und insbesondere auch unsere Folgerungen, die sich aus den Vorkommnissen von damals ergeben müssen, am Ende unserer Arbeit in einem ausführlichen Bericht vorzustellen.“ Derzeit geht Mette davon aus, dass dieser Mitte 2021 veröffentlich wird.
Projektgruppe will weitere Opfer ausfindig machen
Die unabhängige Projektgruppe zur Aufklärung aller Fälle in Reitenbuch und Baschenegg will weitere Opfer ausfindig machen. Frühere Bewohnern können sich den Mitgliedern der Kommission anvertrauen und ihre Erlebnisse schildern. Die Opfer können sicher sein, dass mit ihren Schilderungen vertraulich umgegangen wird. „Wir wenden uns an alle, deren Unrecht bis heute nicht anerkannt wurde“, sagt Mette .
Betroffene können sich vertraulich an die Experten wenden. Zu erreichen per Telefon unter 0821/3166-8393 oder per E-Mail an projektgruppe.reitenbuch@bistum-augsburg.de.
Hier geht es zum Kommentar von Maximilian Czysz : Die Kirche muss den Missbrauchsopfern endlich zuhören
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