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Gersthofen: Historiker Bernhard Lehmann im Interview: Stolpersteine erinnern nun auch an Gersthofer

Gersthofen

Historiker Bernhard Lehmann im Interview: Stolpersteine erinnern nun auch an Gersthofer

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    Der Historiker Bernhard Lehmann gab den Anstoß zu den Gersthofer Stolpersteinen.
    Der Historiker Bernhard Lehmann gab den Anstoß zu den Gersthofer Stolpersteinen. Foto: Marcus Merk

    Stolpersteine sind ein Kunstprojekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig, das im Jahr 1992 begann. Die Steine sollen an alle Opfer des nationalsozialistischen Terrors erinnern – ab Dienstag, 14. Juli, auch in Gersthofen. Den Anstoß dafür gab der Historiker Bernhard Lehmann, der auch eine Gersthofer Stolpersteininitiative gründete. Wir sprachen mit ihm über das Projekt.

    Wie entstand die Idee, auch in Gersthofen der Naziopfer zu gedenken?

    Bernhard Lehmann: Ich war sechs Jahre lang Vorsitzender von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ in Schwaben. Wir waren auch Mitglied der Stolperstein-Initiative in Augsburg.

    Und wie entwickelte sich das?

    Lehmann: Ich habe bald meine Aufgabe darin gesehen, Biografien der Opfer zu erstellen. Ich bin Kaufbeurer, daher habe ich mich sehr stark auf Krankenhausopfer, beispielsweise in Irsee, konzentriert.

    Wie kamen Sie auf den Bezug zu Gersthofen?

    Lehmann: Als ich im Kaufbeurer Archiv war, bin ich bereits im Jahr 2016 auf den ersten Gersthofer Namen gestoßen. Und im Staatsarchiv Augsburg habe ich über Zwangssterilisierte geforscht. Auch hier gab es mehrere Fälle bei Menschen in Gersthofen.

    Das war sicher nicht alles?

    Lehmann Ich habe mir aus Dachau die Daten politisch Verfolgter geben lassen. Das sind Schicksale, denen man nachgehen muss. Und als Historiker kann ich damit nicht aufhören.

    Wie lief die Verfolgung der Opfer?

    Lehmann: Es gab in der Nazizeit einen sehr breiten Interpretationsspielraum darüber, wer als „geisteskrank“ oder „asozial“ galt. Den Nazis ging es darum, die Gesellschaft zugunsten der „Herrenmenschen“ zu bereinigen. In der Tötungsstation Grafeneck zum Beispiel war der Leiter beispielsweise ein Kriminalbeamter. Der wusste, wie man Verbrechen begeht, ohne dass es die Öffentlichkeit mitbekommt.

    Der Historiker Bernhard Lehmann gab den Anstoß zu den Gersthofer Stolpersteinen.
    Der Historiker Bernhard Lehmann gab den Anstoß zu den Gersthofer Stolpersteinen. Foto: Marcus Merk

    So wurden ja auch in Krankenhäusern, beispielsweise in Irsee, Menschen umgebracht?

    Lehmann: Die Krankenhausmorde waren die Spielwiese für den künftigen industriellen Massenmord. So holte sich der damalige Leiter in Irsee, Valentin Faltlhauser, aus Grafeneck eine Frau, die ab 1941 eine eigene Tötungsstation in Irsee bekam.

    Sie wollen ein bürgerschaftliches Engagement fördern, um weitere Biografien zu erstellen?

    Lehmann: Ich bin in ständigem Kontakt mit dem Gersthofer Paul-Klee-Gymnasium mit der Bitte, ein P-Seminar einzurichten, das sich mit solchen Schicksalen befasst. Es ist wichtig, dass sich junge Menschen mit dem Thema auseinandersetzen. Und sie tun es in der Regel mit großem Engagement.

    In Gersthofen erinnern die Stolpersteine aber nicht nur an Menschen, die von den Nazis getötet wurden?

    Lehmann: Der Stadtrat hat einen sehr weisen Beschluss gefasst, indem er sagte, „Opfer ist Opfer“. So können Stolpersteine für sämtliche Opfer des Terrorregimes verlegt werden, also für Juden, Sinti und Roma, politisch und religiös Verfolgte, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, geistig und/oder körperlich behinderte Menschen, Zwangsarbeiter und Deserteure. Auch Überlebende waren traumatisiert. So lebte ein Zwangssterilisierter noch Jahrzehnte lang in Gersthofen.

    Das steckt hinter dem Projekt „Stolpersteine“

    Das Projekt „Stolpersteine“ wurde 1992 in Köln durch den Künstler Gunter Demnig begonnen.

    Die quadratischen Messingtafeln sind mit von Hand eingeschlagenen Lettern beschriftet. Sie wurden neben Deutschland in bisher 23 weiteren europäischen Ländern verlegt und sind somit das größte dezentrale Mahnmal der Welt.

    Inzwischen sind über 70.000 Steine verlegt worden, davon rund 53.000 in 2000 deutschen Kommunen – darunter auch in Meitingen, Augsburg, Ulm und Neu-Ulm.

    Die Steine werden bei der Stiftung Spuren Gunter Demnig in Berlin beantragt.

    Die ersten Stolpersteine in neuen Städten werden immer in Anwesenheit des Künstlers angebracht. Momentan liegt die Wartezeit auf eine Verlegung mit dem Künstler Demnig bei ungefähr einem Dreivierteljahr.

    Wie reagieren die heute noch lebenden Familienmitglieder solcher Opfer?

    Lehmann: Ich nehme mit allen Angehörigen Kontakt auf und suche möglichst das persönliche Gespräch. Das Problem ist, dass manche es immer noch als Stigma für die Familie ansehen, wenn einer der ihren damals zwangssterilisiert oder deportiert wurde. Andere wiederum sind aufgeschlossen, und freuen sich, dass sich jemand mit dem grausamen Schicksal ihrer Angehörigen befasst und – auch über Stolpersteine – dafür sorgt, dass es nicht vergessen wird.

    Die Aktion Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig hat inzwischen ja große Dimensionen erreicht.

    Lehmann: Mittlerweile sind mehr als 75.000 solcher Gedenktafeln aus Messing auf öffentlichem Grund in 1265 Gemeinden Deutschlands und 21 Ländern Europas verlegt. Die Stolpersteine gelten als größtes dezentrales Mahnmal der Welt. Die fünf ersten Stolpersteine in Gersthofen werden von Gunter Demnig persönlich verlegt.

    Am Dienstag, 14. Juli, sollen ab 11.30 Uhr in der Ludwig-Hermann-Straße Nr. 19, 35, 35a, 55 und 67 insgesamt Steine für fünf Personen verlegt werden. Die geltenden Hygiene- und Abstandsregeln müssen eingehalten werden.

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