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Gersthofen: Als Kind fühlte sie sich nicht willkommen

Gersthofen

Als Kind fühlte sie sich nicht willkommen

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    Ein Foto aus den Kindertagen im Altvatergebirge.
    Ein Foto aus den Kindertagen im Altvatergebirge.

    Gersthofen Obwohl sie damals erst fünf Jahre alt war, erinnert sich die Gersthoferin Helmtraud Lederer, eine geborene Kreuzer, noch genau. Ihre frühe Kindheit, die mitten im Krieg begann, verbrachte sie auf dem landwirtschaftlichen Hof ihrer Großeltern im Altvatergebirge im heutigen Tschechien an der Grenze zu Polen. Dort lebte sie mit ihrer Mutter bei den Großeltern, ihr Vater war kurz nach ihrer Geburt in den Krieg geschickt worden. Sie erzählt: „Wir bekamen den Befehl, uns am 4. Juni 1946 im Lager Muna einzufinden. Meine Mutter, meine Großmutter und ich, fünf Jahre alt. Unsere verbliebenen Habseligkeiten waren in einer Kiste verpackt. Viel war das nicht mehr nach dem Krieg und zweimaliger Plünderung. Nur meine Puppe, in einen Kübel gesteckt, durfte ich mitnehmen. Ein Nachbar kam mit einem Pferdewagen und fuhr uns ins Lager. Gesprochen wurde nichts mehr. Jeder nahm für sich Abschied. Man schaute nochmals aufs Haus, die Gemeinde und die Berge.

    Große Enge und Hunger

    Im Lager herrschte große Enge und Hunger. Nochmals wurde von den Lagerleitern alles durchsucht und so manches Stück verschwand. Am Pfingstsonntag, also vier Tage später, wurden wir in Güterwaggons verladen. Etwa 30 Personen mit Gepäck wurden in einen Wagen hinein gedrückt. Die Türen wurden von außen verschlossen und gegen Abend setzt sich der Zug in Bewegung. Wohin die Fahrt ging, wusste man nicht. Doch auch Hunger, Durst sowie der Drang zur Toilette meldeten sich. Viele, vor allem Kinder, ließen den Urin einfach laufen. Die Luft war zum Schneiden. Ich hatte ja Gott sei Dank meinen Kübel. Meine Mutter hatte etwas Tee und getrocknetes Brot für mich. Nur einmal am Tag wurden die Türen aufgerissen und man konnte sich erleichtern.

    In der nächsten Nacht sah man durch die Schlitze viele Lichter – Prag. Es ging nach Westen. Am dritten Tag erreichten wir die Grenze in Furth im Wald. Die Türen wurden geöffnet und die verhassten weißen Binden vom Arm gerissen. Es standen schon hilfreiche Menschen am Bahnsteig und es gab Suppe und Milch. Dann ging es weiter nach Dachau ins ehemalige KZ. Alle mussten den Zug verlassen und zum Entlausen, obwohl wir gar keine Läuse hatten. Es war sehr warm und dauerte lange. Stundenlang stehen ohne Essen und Trinken. Welch eine Qual vor allem für ältere Menschen.

    In verschiedene Städte verteilt

    Nun wurde der Transport aufgeteilt. Es ging in verschiedene, damals oberbayerische Kleinstädte. Wir kamen nach Aichach. Nach einigen Tagen fuhren Lastautos vor und wieder hieß es aufladen. Aindling war unser Ziel. Wieder in einen Saal. Die Besitzerin war eine gute Frau und sorgte für die Leute. Aber ich bettelte um Milch. Als dann Bauernfrauen kamen und Arbeitskräfte suchten, ging meine Mutter mit mir mit. Es war eine böse Frau. Nur für etwas Essen und eine Abstellkammer zum Wohnen musste meine Mutter schwer arbeiten. Ich war den ganzen Tag allein.“

    Schließlich gelang es ihrer Mutter, auch die Großeltern in die Nähe zu holen, damit das kleine Mädchen nicht so viel allein war. Helmtraud Kreuzer erzählt, dass nicht allein die schlimmen Dinge während der Vertreibung ihre Kindheit geprägt hätten, sondern auch die bittere Erfahrung, bei den anderen Kindern nicht willkommen zu sein. Sie verstand den bayerischen Dialekt nicht, es gab viele Tränen und Schläge. Schließlich gab es ein Wiedersehen mit ihrem Vater – ein Fremder für das Kind.

    „Mein Vater war in russische Gefangenschaft geraten und schwer erkrankt. So schickten sie ihn zurück in die DDR. Durchs Rote Kreuz erfuhr er, wo wir waren. So machte er sich auf, ging bei Nacht über die Grenze und kam zu uns. Er sorgte dafür, dass wir woanders ein Zimmer bekamen, und es wurde langsam besser. Nur ich wurde krank, Mundfäule. Wochenlang Schmerzen und nur flüssige Nahrung. Mein Vater wurde gesund und konnte wieder als Schreiner arbeiten. Es ging aufwärts. Wir konnten eine Baracke bekommen, dann den Grund kaufen und 1956 begannen meine Eltern mit dem Bau eines Hauses.“

    Ein guter Schreiner

    Schließlich stieg auch das Ansehen der Familie. Weil ihr Vater ein guter Schreiner im Dorf war, entschuldigte sich schließlich auch die Bauersfrau, die die kleine Familie im Jahr 1946 so unfreundlich aufgenommen hatte.

    Helmtraud Kreuzer ging zur Schule, lernte Radfahren, musste aber auch Babysitten und Zeitungen austragen – eine nicht nur schöne Kindheit, sagt sie heute.

    Jetzt, im Alter von 75 Jahren, könne sie nachvollziehen, wie hart die Situation gerade für die älteren Menschen damals gewesen war. „Die jungen Leute hatten wenigstens Hoffnung“, sagt sie. Und sie sagt auch noch, dass sie sich mit Gott und der Welt ausgesöhnt habe und nach einem Berufsleben im Chemiewerk Hoechst, nun seit Langem zufrieden in Gersthofen lebe. „Außerdem freue ich mich, dass ich in diesem Jahr mal wieder heimfahren kann.“ Heim, das ist immer noch das Altvatergebirge.

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