Unterschiedlicher könnten die Lebensgeschichten der beiden Hauptdarsteller der diesjährigen Tour de France kaum sein. Auf der einen Seite der Slowene Tadej Pogacar, der seit seiner Kindheit generalstabsmäßig auf das Leben als erfolgreicher Radprofi vorbereitet wurde. Und dann ist da Jonas Vingegaard, der bis vor fünf Jahren noch in einer Fischfabrik in seiner dänischen Heimat Hanstholm arbeitete. Vermutlich kann Vingegaard diese Geschichte längst nicht mehr hören, doch sie ist zu gut, als dass sie nicht erzählt werden sollte. Mit 18 Jahren hatte er dort also zu arbeiten begonnen, um nach Schichtende dann noch aufs Rad zu steigen – perspektivisch keine Konstellation, die einen Toursieg besonders wahrscheinlich macht. Zumal Vingegaard von sich selbst sagt, dass er selten der Fleißigste gewesen sei. "Ich war nicht immer der Typ, der am meisten trainiert hat."
Das dürfte sich inzwischen geändert haben, denn ohne hartes Training schafft es auch der talentierteste Radfahrer nicht ins Gelbe Trikot. 2019 war das Jahr, in dem alles anders wurde. Vingegaard, der bis dahin sein Talent allenfalls vereinzelt aufblitzen hat lassen, unterschrieb beim niederländischen Rennstall Jumbo-Visma einen Vertrag. Den Job in der Fischfabrik gab er dafür auf und wurde zum Vollprofi. Die Talentscouts hatten erkannt, welch Potenzial in dem schmächtigen Mann mit dem schüchternen Lächeln schlummert.
Die Tour de France steht im Zeichen des Duells zwischen Pogacar und Vingegaard
Die Tour des Jahres 2021 begann er noch als Edelhelfer von Primoz Roglic, der das Rennen aber nach einem schweren Sturz vorzeitig beenden musste. Plötzlich war Vingegaard Kapitän. Den damaligen Gesamtsieger Pogacar konnte er (noch) nicht gefährden. Ein Jahr später war es dann aber so weit. Vingegaard düpierte Pogacar und gewann erstmals das legendärste Radrennen der Welt.
In diesem Jahr war von Anfang an klar, dass die Tour ganz im Zeichen des Duells der beiden Superstars des Radsports stehen wird. Eine Prognose, die sich bisher bewahrheitet hat. Der 26-jährige Vingegaard darf dabei zu seinen Pluspunkten zählen, dass ihm ein ganz besonderer Fan die Daumen drückt. Im September 2020 brachte dessen Freundin Trine Marie Hansen die gemeinsame Tochter Frida zur Welt. Spätestens in Paris wird Vingegaard seine Familie wieder in die Arme schließen dürfen. Im Idealfall trägt er dann erneut ein Gelbes Trikot.