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Dießen: So inspirierte 1958 das Münchner Turnfest den Sport in Dießen

Dießen

So inspirierte 1958 das Münchner Turnfest den Sport in Dießen

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    Das Deutsche Turnfest 1958 in München war für Helgi-Jón Schweizer ein großes Erlebnis.
    Das Deutsche Turnfest 1958 in München war für Helgi-Jón Schweizer ein großes Erlebnis. Foto: Helgi-Jón Schweizer

    Auch die nicht immer einfachen sportlichen Rahmenbedingungen im Dießen der 1950er-Jahre konnten die jungen Dießener Turner 1958 nicht abhalten, am Deutschen Turnfest in München teilzunehmen. Keine von all diesen Widerwärtigkeiten konnte auch nur im Geringsten die Sportbegeisterung der Dießener Jugend dämpfen, und belohnt wurden die wackeren Sportler dann auch reichlich auf zahlreichen Turn-Festen, nicht zuletzt dem gewaltigen Deutschen Turnfest. Als dieses in München stattfand, schlug, dank kurzer Anfahrt, die Stunde der Dießener.

    Der erste Härtetest war schon in der Nacht vor der Eröffnungsfeier zu absolvieren. Wegen der landesweiten Sportbegeisterung hatten sich zigtausend Turner in der Stadt eingefunden und sollten sich am frühen Morgen zu einem kilometerlangen Festzug aufstellen. Zu bewältigen war das nur auf Kosten eines flächendeckenden Zusammenbruchs allen Verkehrs. Den Turnern aus Dießen konnte das egal sein, sie hatten andere Sorgen. Sie hatten schon am Vorabend die ihnen zugewiesene Wartestellung vor dem Café Istanbul eingenommen und waren kurz nach Mitternacht in den dünnen weißen Turnhosen so gut wie steif gefroren. Was sie letztlich rettete, war ihre historische Vereinsfahne in die sich abwechselnd zwei oder drei der Helden wickeln durften, um im türkischen Blumentrog einzuschlummern.

    Das bronzene Eichenlaub stand beim Turnfest 1958 jedem zu

    Am Tag der Eröffnungsfeier entschädigte dann strahlend wärmender Sonnenschein für die nächtlichen Qualen. Auf der Theresienwiese hatte die Stadt ihre unzähligen Festzug-Tribünen zu einem riesigen Stadion zusammengezimmert, darin dann ein Meer weißgekleideter Turner und Turnerinnen im Takt der Festgymnastik wogte. Bei der enormen Größe des Stadions konnte man sogar die Ausbreitung der Schallwellen im Turnermeer beobachten. Als wäre das nicht schon Belohnung genug, erhielten alle Teilnehmer am Ende der Wettkämpfe - je nach erreichter Punktezahl - einen Kranz aus Eichenlaub und zwar in Gold, Silber und Bronze. Der wahre Sportsgeist war unschwer daran zu erkennen, dass sich jeder gemäß seiner Punktezahl einen Kranz aussuchen und aufs Haupt drücken konnte. Bronze stand jedem zu, der nicht entweder Gold oder Silber erreicht hatte, wobei man Gold- und Bronze-Kränze in ein und denselben Ofenlack getaucht hatte. Die frisch fromm fröhliche Botschaft, die man diesem Bekrönungsschlüssel entnehmen konnte, war klar: die Zweiten werden die Ersten sein.

    Die Turnjugend legte die Stadt zwei Tage und vor allem Nächte lang lahm und färbte sie weiß, allem voran das Rotlichtviertel um den Bahnhof, das am wenigsten mit der FFFF-Invasion und deren strahlend weißen Moral zurechtkam.

    Helgi-Jón Schweizer widmet sich nach dem Turnfest der Königsdisziplin

    Zurück in Dießen versuchte ich meinem Kranz aus Papier-Eichenlaub die verdiente Gold-Farbe zu verpassen und wurde prompt eines moralisch Besseren belehrt: Er verschrumpelte in dem vorgesehenen Vergoldungsbad unter fürchterlicher Geruchsentwicklung vor meinen Augen zu einer schwarzen stinkenden Schandkrone.

    Bei der Abschlussfeier auf der Theresienwiese wurde nur ein einziger Sportler geehrt, nämlich der Sieger des Jahn-Zwölf-Kampfes. Dies blieb bei mir nicht ohne Wirkung. Ich war fest entschlossen, mich dieser Königsdisziplin zu widmen, was in Dießen nicht ganz einfach war. Dießen liegt zwar am Wasser, doch es gab weder Schwimmbahnen noch einen Sprungturm.

    Just da wollte es eine Laune des Schicksals, dass der Gemeinderat sein Herz für Touristen entdeckte und beschloss im beliebten Dießener Strandbad - das damals noch frei zugänglich war - einen Sprungturm zu errichten. Es fand sich auch gleich ein Gemeinderat, der diese Aufgabe übernahm und sogar eine kostensparende Neuentwicklung des Sprungbretts präsentierte. Die steife Eisenkonstruktion konnte zwar nur nach unten klappen, war aber dafür bei ruhigem Wetter bis St. Alban zu hören. Um die für den Jahn-Zwölf-Kampf vorgesehenen Delphin-, Auerbach- und Schraubensalti einigermaßen schmerzfrei ins Wasser zu bringen, war ein außergewöhnlich kraftvoller Absprung erforderlich. Diesen übte ich Tag für Tag in mehr oder weniger vollständiger Bekleidung, um den Aufprall auf die Wasseroberfläche zu mildern.

    Die Dießener Aschenbahn hatte eine Rokokoform

    Beim ersten Wettkampf brachten mir dann meine Sprungkünste auf einem regulären Brett exakt null Punkte ein, dafür aber die ungeteilte Aufmerksamkeit und Anteilnahme des Publikums. Die Sprünge, die ich Dank meiner ausgefeilten Absprungtechnik vollführte, waren vermutlich historisch.

    Als Leichtathlet hatte man in Dießen damals auch nicht gerade ein leichtes Spiel. Immerhin besaß der MTV eine Aschenbahn. Wie so manches in Dießen zeugte auch diese von der im Ort stets reichlich verfügbaren Kreativität. Symmetrie, so sagte man sich wahrscheinlich, ist lediglich verklemmte Selbstbeschränkung. Worauf es ankommt, ist einzig und allein die Länge der Laufbahn und weil es sich so besser fügte, gestaltete man sie eiförmig, ganz im Sinne des ortsüblichen Rokoko.

    Der Sportstättenbau war in Dießen quasi eine eigene Sportart

    Die Aschenbahn wie das ganze Sportgelände und ein Großteil der Seeanlagen wurde von den Altvorderen dereinst dem See und dem Moor durch Aufschüttung abgerungen. Von Zeit zu Zeit erinnert der See daran, was einst sein war, und überflutet die Sport- und sonstigen Anlagen mit einer düngenden schlammigen Brühe. Aufgabe der Athleten war es dann, die Aschenbahn der aufkeimenden Natur wieder zu entreißen. Überhaupt war der Sportstättenbau fast so etwas wie eine eigenständige sportliche Disziplin. Eine Hochsprung-Anlage wurde errichtet und ein Kugelstoß-Ring betoniert, der noch heute von den alten Zeiten zeugt.

    So sah der Sportplatz des MTV Dießen im Jahr 1955 aus.
    So sah der Sportplatz des MTV Dießen im Jahr 1955 aus. Foto: Helgi-Jón Schweizer

    Die Aschenbahn ähnelte über die Jahre hinweg immer mehr einem Acker und die Athleten, sofern noch welche gesichtet wurden, liefen vorzugsweise an ihrem Rand entlang auf dem Fußballfeld. Heutzutage läßt sich der Verlauf der Aschenbahn wie eine Römerstraße anhand der Vegetationsfarbe im Frühjahr erahnen.

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