Unter den unlängst geehrten langjährigen Mitgliedern des MTV Dießen ist auch Dr. Helgi-Jón Schweizer. 50 Jahre ist er bereits Mitglied - allerdings aufgeteilt in zwei Zeitabschnitte. Der heute 85-jährige Psychologe trat bereits als Schüler in den Sportverein ein, nachdem er aus der isländischen Heimat seiner Mutter nach Dießen gekommen war. Als er wegzog, beendete er die Mitgliedschaft, trat dem Verein aber wieder bei, als er erneut nach Dießen zurückkehrte. In vier Teilen erzählt der vielseitige Sportler im Ammersee Kurier von seinen Erlebnissen.
Isländer sind heutzutage eine bekannte Sportnation. Als ich dort aufwuchs, war das anders. Die Sportarten, welche weltweit begeisterten, hatten in Island einen schweren Stand, was nicht zuletzt mit der dort vorherrschenden Windgeschwindigkeit zusammenhing. Bälle jeder Art, vom Fußball bis zum Golfball, beschrieben unvorhersehbare Flugbahnen, Speere landeten selten dort, wohin sie sollten, Läufer erzielten unglaubwürdige Rekorde je nach Windrichtung.
Warum die Isländer im Kugelstoßen und Dreisprung so gut waren
Skifahrer kamen bei Gegenwind mitunter nicht mal bergab voran. Hallensport spielte wegen fehlender oder viel zu kleiner Hallen kaum eine Rolle. Wenn Isländer international erfolgreich auftraten, dann in Sportarten, bei denen Wind eine untergeordnete Rolle spielt, so etwa im Kugelstoßen und im Dreisprung. Ringen wäre noch infrage gekommen, aber da hatten die Insulaner eigene Vorstellungen. Der dortige Ringkampf ist eine Eigenentwicklung, eine Kraftprobe irgendwo zwischen Rauferei und Gesellschaftstanz.
Von diesem ein wenig bizarren Außenposten der Sportwelt kam ich 1952 13-jährig nach Dießen. Voller Neugier und Kraftüberschuss konnte ich es kaum erwarten dem MTV, dem Männer-Turnverein Dießen, beizutreten. Das Sportangebot hielt sich in Grenzen, außer Turnen gab es eigentlich nur noch Fußball. Turnen allerdings war so etwas wie die Mutter aller Sportarten und schloss Schwimmen ebenso ein wie Schwer- und Leichtathletik. Schwimmen hatte ich in Island gelernt, dort allerdings nicht so sehr als Sport, denn als Schulfach. Wieder war der Wind, nämlich die stürmische See entscheidend, und das nasse Grab so manchen Fischers.
Als blonder Recke wurde Helgi-Jón Schweizer im Sportunterricht bevorzugt behandelt
In der Weilheimer Oberrealschule für Knaben, wohin mich meine schulische Laufbahn führte, war der Sport, wie der ganze Ort, noch schwer vom Krieg gezeichnet. Hätte ich gewusst, was ein Schleifer auf dem Kasernenhof mit den Rekruten anstellt, so hätte mich vermutlich der Unterricht weniger befremdet. Als blonder Recke aus dem hohen Norden genoss ich allerdings eine ungeahnte Vorzugsbehandlung, was bei der kriegsbedingten Härte der Ausbildung allerdings nur eine geringe Schmerzlinderung mit sich brachte. Besonders gefürchtet bei den Schülern waren so scheinbar harmlose Sportarten wie Faust-, Korb- und Völkerball. Beim Faustball schlugen sich die Schüler am sandigen Ball die Handgelenke blutig, bei Basketball standen im Winter glühende Öfen unter den Körben und beim Völkerball wurden immer wieder Schüler für den Rest des Unterrichts bewusstlos geballert.
Welch ein Unterschied zum idyllisch friedlichen MTV in Dießen. Härte gab es zwar auch hier, aber diese war eher naturgegeben als von Menschen gemacht. Turnen fand entweder im Freien statt oder in sportlich wenig geeigneter Umgebung oder in beidem, so etwa auf einem von Regen und Bier nassen Podium beim Volksfest. Kaum besser waren da die Bedingungen im Kino, etwa in der Dießener „Alten Post“, wo der MTV Schaukämpfe auf einer schmalen Bühne vor der Leinwand auszutragen hatte. Im Vorprogramm gab es als Entschädigung für misslungene Salti mortali und lebensgefährliche Abgänge von Gerät und Bühne Wasserspiele oder auch mal eine Schlangentänzerin.
Die blauen Flecken verrieten die Turner im sommerlichen Strandbad
An den blauen Flecken konnte man im sommerlichen Strandbad die Turner ebenso leicht erkennen wie später die Eishockeyspieler an diversen fehlenden Zähnen. In manchen mehr oder weniger turnerischen Disziplinen gehörte die harte Landung geradezu zum Programm. Anders lassen sich die etwas überdimensionierten Sisal-Fußabstreifer kaum erklären, auf welchen die Turner mehr oder weniger planmäßig nach einer gelungenen oder misslungenen Reck-Übung landeten. Übertroffen wurde diese Abhärtungsmaßnahme nur noch von der Landehilfe, die man Hochspringern und vor allem Stabhochspringern zugestand. Letztere landeten in einer festgestampften Sandgrube und hatten außerdem mit ihrem zum Splittern neigenden Bambus-Sportgerät zu kämpfen.
Teil 2 der Erinnerungen von Helgi-Jón Schweizer folgt demnächst.
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