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Obergriesbach/Griesbeckerzell: Eine Ukrainerin zwischen zwei Welten – von einem Leben voller Fragezeichen

Kateryna Druzhenets aus der Ukraine bringt ukrainischen Kindern an der Grundschule in Griesbeckerzell Deutsch bei.
Obergriesbach/Griesbeckerzell

Eine Ukrainerin zwischen zwei Welten – von einem Leben voller Fragezeichen

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    Neben der früheren Schlosswirtschaft in Obergriesbach reckt sich der Maibaum der 2000-Einwohner-Gemeinde gen Himmel. Die Sonne wärmt, Kirchenglocken läuten, von einem benachbarten Grundstück weht Grillgeruch herüber. Bunte Schilder, bemalt von ukrainischen Kindern, schmücken den Baum. Direkt daneben: zwei Flaggen – die bayerische und die ukrainische.

    Kateryna Druzhenets, 38, hat das seit mehreren Wochen täglich vor Augen. Mit ihrer 60-jährigen Mutter und ihrer sieben Jahre alten Tochter Anna bewohnt sie ein Zimmer im ehemaligen Gasthaus, das jetzt als Flüchtlingsunterkunft dient.

    Anfang März 2022, Sumy, Nordostukraine, etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Bomben krachen nachts auf die Häuser, Panzer lodern, Sirenen heulen. Kateryna Druzhenets fühlt Todesangst. Jeden Tag und jede Nacht.

    "Ich konnte nicht mehr mit Anna spielen, auch wenn ich wusste, dass es sie beruhigt hätte. Ich konnte nichts mehr kochen, kein Buch lesen, keinen Film schauen. Nichts ging mehr", sagt sie. Ihre Stimme ist ruhig, während sie davon erzählt. Doch ihr Blick weicht aus, wenn sie vom Krieg in ihrer Heimat spricht.

    "Das ist auch nach über vier Monaten noch unglaublich für uns."

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    In Sumy wohnte sie mit ihrem Mann Volodymyr, mit Anna und ihrer Mutter in ihrem eigenen Haus. Keiner habe mit einem Angriff der Russen gerechnet, sagt sie. "Das ist auch nach über vier Monaten noch unglaublich für uns." Ihr Haus bleibt unzerstört; die Familie, Freunde und Bekannte unverletzt. Körperlich.

    Kateryna Druzhenets' Blick schweift durch den Raum in der ehemaligen Schlosswirtschaft. Zwei Betten stehen darin, eines für sie und ihre Tochter, das andere für ihre Mutter. Laptop auf dem Schreibtisch, Sonnenhut auf dem Bett, Ventilator in der Ecke, daneben eine Staffelei. In ihrer Freizeit male sie gerne, sagt sie. An einem Foto auf einem Regalbrett bleibt ihr Blick hängen: Es zeigt sie und ihren Mann neben einem geschmückten Weihnachtsbaum. Er hat ein Baby, Anna, auf dem Arm.

    Kateryna und Volodymyr Druzhenets mit ihrer siebenjährigen Tochter Anna im letzten Sommerurlaub in der Nähe von Sumy.
    Kateryna und Volodymyr Druzhenets mit ihrer siebenjährigen Tochter Anna im letzten Sommerurlaub in der Nähe von Sumy. Foto: Kateryna Druzhenets

    Gemeinsam mit ihrem Mann beschließt Kateryna Druzhenets Mitte März, für ihre Tochter sei es besser, die Ukraine zu verlassen. Eine Freundin war bereits nach Obergriesbach geflohen. Das Münchner Kulturzentrum Garod-Gik (Gesellschaft für Integration und

    Band Kalaska nimmt ukrainische Familien in Schlosswirtschaft auf

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    Zuvor probte dort die Aichacher Alternative-Rockband Kalaska. Nach dem Angriff auf die Ukraine entschieden die Musiker, ihre Proberäume und ihr Aufnahmestudio Geflüchteten zur Verfügung zu stellen. Mit Helferinnen und Helfern machten sie daraus sechs Schlafzimmer, einen Gemeinschaftsraum mit provisorischer Küche, ein Bad und zwei Toiletten, trieben Möbel auf, sammelten Kleidung, Geld und Lebensmittel.

    So fehlt es Kateryna Druzhenets, ihrer Tochter und ihrer Mutter in Obergriesbach auf den ersten Blick an nichts. Auf den zweiten Blick fehlt Druzhenets Mann, Annas Vater. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen. Auch Volodymyr Druzhenets hat ein Schreiben vom Militär bekommen, soll kämpfen. Die 38-Jährige ist froh, dass ihr Mann aktuell noch als Ingenieur arbeiten kann.

    Stundenlang harren sie an der polnischen Grenze aus

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    Nach einem kurzen tränenreichen Abschied steigen Kateryna Druzhenets, Anna und ihre Großmutter am 15. März gegen 14 Uhr nach fünf Stunden des Wartens in einen von beinahe 100 Bussen, organisiert vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK). Im Bus ahnt Kateryna Druzhenets nicht, wie beschwerlich die Reise werden würde; ist in Gedanken nur bei jenen, die sie zurücklässt: Ehemann, Vater, Großmutter, weitere Verwandte, Freunde, Hund, Katze, ihr Haus, ihren Job als Bibliothekarin und Privatlehrerin für Deutsch und Englisch.

    Zwei schlaflose Tage und Nächte: Bus von Sumy nach Lubny, Zug nach Lwiw, Bus an die polnische Grenze. Dort treffen sie auf eine Schlange aus Tausenden von Menschen. Alle wollen raus aus der Ukraine. Beinahe 20 Stunden harren sie in der Kälte aus. Kateryna Druzhenets sagt: "Ich bin allen Freiwilligen, die uns und allen anderen dort Decken, Essen und Getränke gegeben haben, so dankbar. Aber für die Kinder war die Situation …" Ihr Satz bleibt unvollendet.

    Mit 15 anderen Menschen wohnen sie in dem Gemeinschaftshaus

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    Nach der Grenze geht es in ein Lager für Geflüchtete – einen riesigen Supermarkt, gefüllt mit Tausenden von Betten. Den Namen der Stadt hat sie vergessen, nicht aber das Gefühl, das sie damals durchströmte: rausgehen ohne Angst, ruhig schlafen – überhaupt schlafen. Endlich Sicherheit. "Wir haben uns gefühlt wie in einem Luxushotel."

    Ein Ehepaar, das seine Hilfe beim Münchner Kulturzentrum angeboten hatte, holt die drei schließlich mit dem Auto in Polen ab und fährt sie nach Obergriesbach in ihr neues Zuhause – über 2000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Seither teilen sich die drei das Gemeinschaftshaus mit 15 Menschen aus vier verschiedenen ukrainischen Familien.

    In diesem Zimmer in der ehemaligen Schlosswirtschaft wohnt Kateryna Druzhenets mit ihrer Tochter Anna und ihrer Mutter. Gemeinsam mit vier anderen ukrainischen Familien teilen sie sich in dem Haus Bad, Toiletten, Küche und Gemeinschaftsraum.
    In diesem Zimmer in der ehemaligen Schlosswirtschaft wohnt Kateryna Druzhenets mit ihrer Tochter Anna und ihrer Mutter. Gemeinsam mit vier anderen ukrainischen Familien teilen sie sich in dem Haus Bad, Toiletten, Küche und Gemeinschaftsraum. Foto: Lara Voelter

    Haltestelle "Am Maibaum", direkt neben dem ehemaligen Gasthof: Jeden Morgen fährt Kateryna Druzhenets mit sieben der neun ukrainischen Kinder mit dem Bus nach Griesbeckerzell in die Grundschule – darunter Tochter Anna.

    Kateryna Druzhenets unterrichtet wöchentlich 20 Stunden Deutsch

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    Seit Ende April bringt Kateryna Druzhenets den ukrainischen Kindern zwischen sechs und elf Jahren Deutsch bei. Nur sechs der 20 Wochenstunden bekommt sie als sogenannte Brückenkraft von der Regierung Schwaben bezahlt. Bei einer Spendenübergabe der Grundschule an die Band Kalaska hatte die Schulleiterin Martina Ritzel erfahren, dass Druzhenets Deutsch studiert hat, Lehrerfahrung besitzt. Ritzel besorgte ihr den Job an der Grundschule.

    In der Schulbibliothek lassen fünf Jungen und Anna die Füße von ihren Stühlen baumeln. Manche haben ihre Schuhe ausgezogen und in eine Ecke gestellt. Drei aus der Flüchtlingsklasse fehlen heute. Für die ukrainischen Kinder besteht keine Anwesenheitspflicht; auch nicht im Unterricht, den sie mit den deutschen Kindern besuchen. Ab dem kommenden Schuljahr wird sich das ändern. Vorausgesetzt, sie bleiben in Deutschland.

    Der elfjährige Yegor (links) und der siebenjährige Denis folgen Kateryna Druzhenets Deutschunterricht.
    Der elfjährige Yegor (links) und der siebenjährige Denis folgen Kateryna Druzhenets Deutschunterricht. Foto: Lara Voelter

    Kateryna Druzhenets begrüßt die Kinder: "Servus!" "Seeeeeervus", schallt es durch den Raum. An diesem Tag stehen die Themen Familie, Freunde und Hobbys auf dem Lehrplan, den Druzhenets entwickelt hat. Zunächst geht es ans Wörterraten. Mit Kreide hat sie ein Spiel an die Tafel gezeichnet, einzelne Buchstaben eines Wortes durch Lücken ersetzt. "Welche Buchstaben fehlen?", fragt sie auf Deutsch, wiederholt den Satz auf Ukrainisch. Mehrere Hände schießen in die Höhe. Jeder darf der Reihe nach einen Buchstaben an der Tafel ergänzen. "Familie", "Mama", "Papa", "Schwester", "Opa" stehen dort geschrieben. "Sehr gut, vielen Dank", lobt die Lehrerin.

    Ein Junge zappelt auf seinem Stuhl, sagt etwas zu seinem Nachbarn, lacht laut. Kateryna Druzhenets berührt ihn leicht an der Schulter, legt ihren Finger an die Lippen. Ein strenger Blick. "Dawai, dawai" – "Weiter geht’s."

    Kateryna Druzhenets erklärt den Kindern den Schulstoff zunächst auf Deutsch, dann auf Ukrainisch. Auch Arbeitsblätter fertigt sie zweisprachig an.
    Kateryna Druzhenets erklärt den Kindern den Schulstoff zunächst auf Deutsch, dann auf Ukrainisch. Auch Arbeitsblätter fertigt sie zweisprachig an. Foto: Lara Voelter

    Zurück in Obergriesbach. Im Garten reihen sich Fahrräder unterschiedlicher Größen und Farben aneinander. Auch ein Auto steht für Besorgungen bereit. Die freiwilligen Helferinnen und Helfer fragen jede Woche, ob die Familien etwas bräuchten, ob Hilfe nötig sei, berichtet Kateryna Druzhenets.

    Konfliktpotenzial: Wenn westliche Werte auf traditionelle prallen

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    Miete, Nebenkosten und sonstige Ausgaben für das Haus bestreiten die Bandmitglieder mithilfe von Spenden. Die drei Musiker stehen in engem Kontakt mit den ukrainischen Familien, bekommen dadurch viel mit. Kevin Conen, Schlagzeuger von Kalaska, sagt: "Klar gibt’s auch Konflikte. Das geht, glaube ich, gar nicht anders. Aber mittlerweile reißen sie sich echt mehr zusammen." Er lacht. Bassist Markus Haberer ergänzt, die kulturellen Unterschiede innerhalb der Ukraine seien deutlich größer als in Deutschland. Familien aus dem Nordwesten seien eher westlich geprägt, andere aus dem Südosten verfolgten noch sehr traditionelle Werte. "Das sind zum Teil wirklich noch Sowjet-Vibes", sagt er. Häufig könne eine Familie nicht nachvollziehen, was die andere tue. Großmütter mischten sich in die Kindererziehung anderer Familien ein.

    Wochenende in Obergriesbach: Der Sportklub hat zum Benefiz-Elfmeterschießen auf den Bolzplatz geladen. Kateryna Druzhenets macht sich nichts aus Fußball. Aber sie ist da. Weil alle da sind.

    Die ukrainischen Geflüchteten, die in der ehemaligen Schlosswirtschaft wohnen, die Band Kalaska und andere Freiwillige beim Benefiz-Elfmeterschießen des Sportclubs Obergriesbach.
    Die ukrainischen Geflüchteten, die in der ehemaligen Schlosswirtschaft wohnen, die Band Kalaska und andere Freiwillige beim Benefiz-Elfmeterschießen des Sportclubs Obergriesbach. Foto: Kevin Conen

    Auch wenn der Ukraine-Krieg endet, wird es in Sumy zu gefährlich sein

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    Zuerst, sagt die 38-Jährige, habe sie gehofft, schnell wieder in die Ukraine zurückkehren zu können. Inzwischen glaubt sie nicht mehr daran. "Auch wenn der Krieg irgendwann vorbei ist, wird es in unserer Stadt noch lange zu gefährlich sein. Überall sind Minen und Kinder wollen spielen und sich frei bewegen."

    Wie es für sie, Anna und ihre Mutter weitergeht, weiß sie nicht. Ende Juli läuft ihr Vertrag als Lehrkraft aus. Martina Ritzel setzt sich zwar dafür ein, dass die 38-Jährige auch im kommenden Schuljahr an ihrer Schule unterrichten darf, mehr Stunden als bisher bezahlt bekommt. Letztendlich liege das aber nicht in ihrer Hand. Sie sei von der Entscheidung der Regierung von Schwaben abhängig, sagt die Rektorin.

    Kateryna Druzhenets klagt nicht. Sie kauft sich ein Bier und wartet darauf, dass sie erneut an der Reihe ist beim Benefiz-Elfmeterschießen des Sportklubs Obergriesbach. Sie nimmt Anlauf und schießt.

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