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Aichach-Oberwittelsbach: Am seidenen Faden: Oberwittelsbacherin rückt altes Handwerk in den Fokus

Sibylle Hübner-Schroll aus dem Aichacher Stadtteil Oberwittelsbach hat es geschafft, das jahrtausendealte Handwerk des Webens mehr in den öffentlichen Fokus zu rücken.
Aichach-Oberwittelsbach

Am seidenen Faden: Oberwittelsbacherin rückt altes Handwerk in den Fokus

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    Es klappert, klackt, knarrt. Wie ein Pfeil schießt das Schiffchen mit der integrierten Garnspule von der einen Seite des Webstuhls durch die längs gespannten Kettfäden auf die anderen Seite. Zack. Zack. Zwei kurze, feste Anschläge. Die Weblade presst das Garn dicht an das bereits vorhandenen Gewebe: ein Stoff mit Wellenmuster in den Farben Rot, Gelb und Weiß. Ein Fußtritt und der beinahe schon meditative Rhythmus beginnt erneut. Sibylle Hübner-Schroll aus dem Aichacher Stadtteil Oberwittelsbach hat gerade Überzüge für ihre Esszimmerstühle in der Mache. Die 63-Jährige ist Handweberin und hat es geschafft, die jahrtausendealte Kulturtechnik wieder mehr in den öffentlichen Fokus zu rücken: Durch ihre Bewerbung wurde das Handweben im März in die bayerische Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Nun hat der Freistaat das Handwerk auch für die bundesweite Unesco-Liste vorgeschlagen. Anfang 2023 steht fest, ob es funktioniert hat. 

    Wie es im Falle eines Erfolges weitergeht? Womöglich sogar in der internationalen Unesco-Liste. Völlig abwegig ist das nicht, denn Deutschland kann hierfür pro Jahr eine Kulturform vorschlagen. Zum immateriellen Kulturerbe gehören Traditionen wie etwa Tanz, Theater, Musik, Bräuche, Feste, überliefertes Wissen und traditionelle Handwerkstechniken. Kulturelle Ausdrucksformen, die es auf die Liste schaffen, fußen auf menschlichem Können und Wissen, werden über Generationen hinweg weitergegeben und kontinuierlich neu gestaltet. 

    Dank Hübner-Schroll ist das Handweben in Bayern immaterielles Kulturerbe

    Durch Zufall erfuhr Hübner-Schroll im vergangenen Jahr, dass das Handweben trotz seiner 30.000 Jahre alten Tradition nicht in der Liste des immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgeführt ist. "Kleidung ist so etwas Grundlegendes, das hat mich sehr gewundert", sagt sie. Eine Nachfrage bei der deutschen Unesco-Niederlassung in Bonn bestätigte: Vergleichbare Kulturformen wie etwa das Flechthandwerk oder das Spitzenklöppeln stehen auf der Liste, das Handweben allerdings nicht. Aber warum nicht? Gehört es doch zu den ältesten und grundlegendsten Handwerken der Menschheit. Ganz einfach: Bislang hatte niemand einen Antrag gestellt. In der Regel muss das jemand tun, der die jeweilige Kulturform ausübt. Also beschloss Hübner-Schroll, sich der umfangreichen Bewerbung zu widmen. Gemeinsam mit den beiden Vorsitzenden der Interessengemeinschaft Handweberei füllte sie die knapp 20 Seiten des Antrags aus. Ein für Bayern zuständiger Berater unterstützte sie dabei. 

    Wenngleich es handgewebte Stoffe seit tausenden von Jahren gibt, stand das Handwerk bis vor Kurzem nicht auf der bayerischen Liste des immateriellen Kulturerbes.
    Wenngleich es handgewebte Stoffe seit tausenden von Jahren gibt, stand das Handwerk bis vor Kurzem nicht auf der bayerischen Liste des immateriellen Kulturerbes. Foto: Lara Voelter

    Zwei unabhängige Fachleute müssen außerdem mit einem Empfehlungsschreiben die Bewerbung unterstützen. Die Wahl fiel auf eine Volkskundlerin an der Universität Regensburg, Melanie Burgemeister. Seit beinahe 20 Jahren forscht sie zum Thema Kleidung und deren Rekonstruktion und webt selbst. Als zweiten Experten konnte Hübner-Schroll den Direktor des Staatlichen Textil- und Industriemuseums Augsburg (tim), Karl Borromäus Murr, gewinnen. All der Aufwand für die Bewerbung zahlte sich aus. "Die Freude war sehr groß, als ich erfahren habe, dass es geklappt hat." Mitte Juli bekommt sie in München eine Urkunde für die Aufnahme in die bayerische Liste überreicht. 

    Hübner-Schrolls erster Webstuhl hat bereits 40 Jahre auf den Schäften – und die Oberwittelsbacherin webt nach wie vor damit. Wenn möglich jeden Tag. Kommt mal etwas anderes dazwischen, fehlt ihr die Handarbeit. "Das ist so eine schöne Beschäftigung. Ich glaube, ohne das Weben wäre ich in den vergangenen beiden Jahren mit der Pandemie verrückt geworden."

    Weit mehr als 100 Schals hat sie schon gewoben

    Während ihres Berufslebens als Gesundheitsredakteurin bei der Augsburger Allgemeinen hatte ihr allerdings meist die Zeit gefehlt, um sich ihrem kreativen Hobby zu widmen. Folglich staubte der Webstuhl im Keller eher vor sich hin. Als Hübner-Schroll vor ihrer Rente länger krankgeschrieben war, flammte die Passion erneut auf. Diesmal äußerst heftig und nachhaltig: Weit über 100 Schals hat sie bislang gewoben – in der hauseigenen Werkstatt. Hinzukommen etliche Überzüge, für Stühle etwa. Im Normalfall gleicht kein Exemplar dem anderen, jedes ist ein Unikat.

    Vor 40 Jahren gekauft – und noch immer in Gebrauch: Sibylle Hübner-Schrolls erster Webstuhl.
    Vor 40 Jahren gekauft – und noch immer in Gebrauch: Sibylle Hübner-Schrolls erster Webstuhl. Foto: Lara Voelter

    Besonders faszinierend am Webhandwerk findet Hübner-Schroll das Spiel mit den Farben. Häufig könne man vorab gar nicht absehen, wie diese zusammen wirken, wie ein geplantes Muster schließlich herauskomme. "Es ist Erfahrung nötig, um zu wissen, welche Farben miteinander harmonieren könnten", sagt sie. Viel auszuprobieren gehöre dennoch dazu. Gefällt ihr eine Farbkombination nicht, zieht sie neue Fäden ein, wenngleich das Zeit kostet. Herzblut par excellence. Immer wieder legt sie verschiedenfarbige Garne nebeneinander, betrachtet deren Wirkung aufeinander. Je nach Schwierigkeitsgrad des Musters und Anzahl der Tritte variieren die Arbeitsstunden, die Hübner-Schroll für ihre Einzelstücke investiert. Klar ist jedoch: Es sind etliche – und zwar immer.

    Hübner-Schroll zeigt auf einen fertigen Schal und sagt: "Hier sieht man gar nicht, dass die Farben Violett und Grün reingewebt sind. Eigentlich sieht es eher aus wie rot." Beinahe unüberschaubar sei die Zahl der möglichen Bindungen und Muster, fügt sie hinzu. Es ist der unglaubliche Facettenreichtum der Weberei, der Sibylle Hübner-Schroll antreibt. "Ich weiß gar nicht, ob ich es schaffe, alles auszuprobieren, bis ich 80 bin", sagt sie amüsiert.

    Sibylle Hübner-Schroll machte eine Ausbildung als Handweberin

    Vor Jahrzehnten hatte sie sich ihre Webkenntnisse über einen Kurs angeeignet, Bücher über das Handweben gewälzt, mit Bindearten und Mustern experimentiert – mal mit eingängigen, mal mit hochkomplizierten. Gestillt war der Wissensdurst dadurch jedoch nicht, im Gegenteil. Also machte Sibylle Hübner-Schroll am Haus der Handweberei in der baden-württembergischen Weberstadt Sindelfingen eine Ausbildung zur Handweberin: vier Kurse pro Jahr über drei Jahre hinweg. Vor der Rente verbrachte sie Urlaubstag um Urlaubstag am Webstuhl – Faserkunde, Farblehre und Hausaufgaben inklusive. Auch nach dem Ende ihrer Ausbildung 2019 belegte sie immer wieder Spezialkurse, um ihr Wissen zu vertiefen, ihre Begeisterung zu nähren. 

    Um ihr Wissen zu vertiefen, machte  Sibylle Hübner-Schroll in der baden-württembergischen Weberstadt Sindelfinden eine Ausbildung zur Handweberin.
    Um ihr Wissen zu vertiefen, machte Sibylle Hübner-Schroll in der baden-württembergischen Weberstadt Sindelfinden eine Ausbildung zur Handweberin. Foto: Lara Voelter

    Alpaka, Seide, Merinowolle, Mohair, Ökobaumwolle, Jeans-Recycling- oder Fair-Trade-Garn, Fasern aus Holz, Bambus oder Zuckerrohr – häufig handgefärbt mit außergewöhnlichen Farbverläufen. Kisten voller verschiedenfarbiger teils schimmernder Garne reihen sich in Hübner-Schrolls Werkstatt nebeneinander. Auch Garnreste, die es nicht mehr zu kaufen gibt, füllen die Werkstattregale. "Immer wenn ich das Gefühl habe, das gibt's bald nicht mehr, muss ich zuschlagen", sagt Hübner-Schroll. "So viel wie ich habe, muss man sich ja nicht zulegen, aber einen gewissen Vorrat braucht man schon." Denn es ist einiges an Garn nötig, um einen Schal zu weben. Allein die Materialkosten belaufen sich pro Exemplar auf etwa 50 Euro.

    Je nach Aufwand und Garn kosten die Schals zwischen 70 und 200 Euro

    Auf Künstler- und Textilmärkten und über ihre Webseite können Interessierte Hübner-Schrolls Schals kaufen. Kostenpunkt: zwischen 70 und 150 Euro, in Einzelfällen auch mal bis zu 200 Euro – je nach Aufwand und Garn. Hübner-Schroll ist vor allem eines wichtig: anderen Menschen mit ihrem Handwerk eine Freude zu bereiten, und: dass ihre Schals auch getragen werden. Deshalb möchte sie die Preise ungeachtet des Arbeitsaufwands erschwinglich halten. "Ich habe schon sehr viele Ausgaben und kaum Einnahmen. Würde ich die Kosten für meine Schals pro Arbeitsstunde berechnen, dann würde sie keiner kaufen. Ich kenne kaum jemanden, der es schafft, vom Weben zu leben. Ich glaube, das geht heute auch nicht mehr." Aber diesen Plan verfolgte Sibylle Hübner-Schroll ohnehin nie.

    Sibylle Hübner Schroll liebt es, immer wieder mit Garnen aus verschiedenen Materialien zu experimentieren - oder auch mal Perlen in ihre Schals zu weben.
    Sibylle Hübner Schroll liebt es, immer wieder mit Garnen aus verschiedenen Materialien zu experimentieren - oder auch mal Perlen in ihre Schals zu weben. Foto: Lara Voelter

    Vielmehr ist sie stetig auf der Suche nach neuen Materialien und Mustern. Immer wieder nimmt sie neue Garne in ihr Repertoire auf. Aktuell arbeitet sie besonders gerne mit Baby-Alpaka – das übrigens nicht so heißt, weil es von Baby-Alpakas stammt, sondern weil es so fein ist. Laut Züchterangaben enthalten Alpakafasern nahezu kein Wollfett, das für Allergikerinnen und Allergiker problematisch werden kann. Hübner-Schroll selbst hat sehr empfindliche Haut, weiß also nur zu gut, wie wichtig es ist, auf hochwertige Garne zu achten. Ihr Credo: Schals sollen nicht nur schön aussehen, sondern sich auch gut anfühlen. Deshalb verwendet sie nur hautschmeichelnde Materialien. Außerdem legt sie Wert darauf, dass diese möglichst nachhaltig und natürlich sind. "Ich kann mich kaum bremsen, wenn ich was bestelle, da gibt es so schöne weiche Sachen", sagt Hübner-Schroll und streicht mit ihrer Hand über einen fertigen Schal.

    Das Handweben erfordert zahlreiche komplexe Arbeitsschritte

    Muster erstellen, das passende Garn samt Farben dazu finden, berechnen, wie viel Material benötigt wird und wie viel davon beim Waschen eingeht. Das Handweben erfordert viel Kopfarbeit, zahlreiche komplexe Arbeitsschritte sind nötig. Kurz bevor Sibylle Hübner-Schroll in Rente ging, habe sie einem Kollegen erzählt, sie freue sich sehr darauf, bald mehr Zeit fürs Weben zu haben. Er erwiderte, man müsse aber im Alter auch etwas für den Geist tun. Sie lacht und sagt: "Daran erinnere ich mich oft, wenn ich wieder einen neuen Schal plane – oder mich gerade verwebt habe."

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