Vor einem Jahr, am 4. März 2020, wurde im Landkreis Aichach-Friedberg der erste Fall einer Covid-Erkrankung labormedizinisch bestätigt. Seitdem wurden über 3500 Menschen im Wittelsbacher Land positiv getestet, mehr als 80 Menschen starben an oder mit Covid-19. Dr. Andreas Ullmann, Allgemeinmediziner und Geschäftsführer des Zentrums für Allgemeinmedizin in Aichach, hat seit dem ersten Corona-Fall im Landkreis nicht nur viele Covid-Patienten behandelt. Der 56-Jährige hat als Versorgungsarzt beziehungsweise ärztlicher Koordinator, der bei der Führungsgruppe Katastrophenschutz (FüGK) angesiedelt ist, auch organisatorisch bei der Bewältigung der Pandemiefolgen mitgewirkt.
So unterstützte er die FüGK von April bis Mitte Juni etwa bei der Verteilung von Schutzausrüstung an Arztpraxen, baute die Fieberpraxen auf und half beim Aufbau von Teststrecke und Testzentrum. Seit September kümmert er sich zudem um die Organisation von Reihentests und koordiniert erneut die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten und Impfzentren. Welche Patienten-Schicksale er seit Beginn der Pandemie erlebt hat, warum er zur Impfung rät und was ihn zuversichtlich stimmt.
Herr Dr. Ullmann, am 4. März 2020 wurde im Landkreis der erste Fall einer Covid-Erkrankung labormedizinisch bestätigt. Wie haben Sie damals vom neuartigen Coronavirus erfahren?
Dr. Andreas Ullmann: Ich denke, ungefähr so wie alle. Man hat gemerkt, da kommt ein neuer Keim. Anfangs dachte man noch, das sei auf China beschränkt. Ich habe dann auch in Fachzeitschriften viel gelesen.
Ab wann war Ihnen klar, was da auf uns zukommt?
Ullmann: Neuartige Virusmutationen treten immer wieder auf. Aber eine so globale Pandemie ist extrem selten. Die Ausbreitungsgefahr wurde vermutlich von allen unterschätzt. Das kann man keinem zum Vorwurf machen. Einzelne Ausbrüche, zum Beispiel von Ebola, hat man doch immer in den Griff bekommen. Spätestens nach der flächendeckenden Ausbreitung in anderen Ländern wurde klar, was uns bevorsteht.
Was hat Sie als Mensch am meisten überrascht?
Ullmann: Wie viele Leute schnell an ihre finanziellen Grenzen kommen, weil sie auch in Deutschland von der Hand in den Mund leben. Wie viele Politiker in anderen Ländern das Virus verharmlosen. Und wie schnell Begegnungen unpersönlich werden.
Und als Arzt?
Ullmann: Wie schnell man auf einen Handschlag verzichten kann. Das war vorher nicht vorstellbar. Ich weiß nicht, ob das wieder kommt. Außerdem war ich erstaunt, wie viele Menschen aus Angst Wichtiges für sich selber unterlassen: Termine, Kontrollen, Impfungen, ins Krankenhaus zu gehen. Die Angst ist so groß, dass sie sich nicht behandeln lassen. Das tut ihnen aber auch nicht gut. Und mich hat überrascht, wie schwer es ist, sich als Arzt dauerhaft zu schützen. Als Arzt hat man ja mit vielen Infektpatienten zu tun, zum Beispiel bei Tuberkulose oder Aids. Aber dieser Keim ist insofern etwas Besonderes, weil man ihn schlecht einschätzen kann. Wir haben eine Infektionssprechstunde, wir trennen Covid-Patienten von anderen. Wir tun viel. Aber Masken helfen nur zum Teil. Wenn ich jemandem zum Beispiel in den Rachen schauen muss, muss er seine Maske abnehmen.
Wie viele Covid-Patienten haben Sie selbst erlebt oder behandelt? Welche Erlebnisse sind Ihnen dabei besonders in Erinnerung geblieben?
Ullmann: Ich habe das Zählen aufgehört. Großteils waren es Gott sei Dank leichte Fälle, aber immer wieder auch schwere. Manchmal sogar extrem schwere, die zum Teil gleich in der Praxis abgeholt werden mussten. Das war sehr unterschiedlich. Wir hatten zum Beispiel eine 90-Jährige nur mit Halskratzen – und 40-Jährige, die gestorben sind. Wir kannten auch viele Heimpatienten, die nicht überlebt haben.
Was sagen Sie – auch aus diesen Erfahrungen heraus – sogenannten „Corona-Skeptikern“?
Ullmann: Viele von deren Argumenten kommen im Endeffekt nicht von Betroffenen. Ein Staat wie Deutschland will nicht in eine Situation mit Triage [wenn Ärzte entscheiden müssen, welcher lebensgefährlich erkrankte Patient behandelt wird oder nicht, Anm. d. Red.] kommen. Die derzeitige Lage bringt das ohnehin am Rand der Belastbarkeit arbeitende Gesundheitssystem an seine Grenzen. Es geht nicht ohne staatliche Eingriffe in die eigene Freiheit – es sei denn, wir akzeptieren, dass mehr Menschen sterben. Wenn es mehr Infektionen gibt, gibt es mehr Schwerkranke, mehr Beatmete und mehr Tote. Das ist leider so.
Was raten Sie Menschen, die unschlüssig sind, ob sie sich impfen lassen?
Ullmann: In 20, 30 Jahren hat nie jemand den Beipackzettel einer Tetanus-Impfung gelesen, höchstens mal nach Nebenwirkungen gefragt. Bei den Corona-Impfungen wird jedes Wort zerpflückt. Ich bin bereits geimpft. Unsere bisherigen Erfahrungen in der Praxis sind überwiegend sehr positiv. Es gibt allenfalls mal leichte Nebenwirkungen. Das Schlimmste, was ich mitbekommen habe, war, dass sich jemand ein bis zwei Tage krank gefühlt hat. Das kennen wir von anderen Impfungen. Viele Ältere warten auf die Impfung. Ich denke, es sind eher Jüngere, die überlegen. Die überleben zwar die Erkrankung leichter. Aber sie tragen das Virus in die Familien. Das ist das Problem. Ich hatte schon eine Familie, in der klar war, dass das Kind das Virus reingetragen hat, und der Opa ist gestorben. Manche derer, die erkranken, sind danach noch extrem leistungsgeschwächt, haben Atembeschwerden. Das dauert oft sehr lang. Wenn wir dauerhaft in ein normales Leben zurückkehren wollen, kommen wir um die Impfung nicht herum.
Vor welche Probleme hat die Pandemie Sie und Ihre Berufskollegen gestellt?
Ullmann: Die Krankenhäuser arbeiten am Anschlag. Auch im ambulanten Bereich ist das Arbeiten viel schwerer geworden. Sie sehen es ja in unserer Praxis: Striche, Abstand, Schutzkleidung, Plexiglas. Die Arzt-Patienten-Beziehung leidet unter den Masken. Manche neue Patienten würde ich nicht wiedererkennen. Viele Ärzte sind in wirtschaftliche Nachteile geraten: Viele Checks, Vorsorgetermine, Haus- und Heimbesuche fallen weg. Dazu kommt der Personalausfall, weil Mitarbeiter in Quarantäne müssen oder die Kinderbetreuung nicht gesichert ist. Bei Zahnärzten ist es dasselbe. Im zweiten Quartal 2020 waren es bei uns circa zehn bis 20 Prozent weniger Patienten. Jetzt hat es sich wieder weitgehend normalisiert. Zum Glück hat sich keiner unserer Angestellten angesteckt. Ich kann mich auch noch gut erinnern, welcher Aufwand das in der Praxis war, als wir den ersten Corona-Fall hatten. Inzwischen ist so was fast Alltag.
Wo sehen Sie die größten Probleme, die die Pandemie offen gelegt hat?
Ullmann: Das Gesundheitssystem kann den dauerhaften Anfall an Intensivpatienten nicht stemmen. Es sind nicht Maschinen, die fehlen, sondern geeignetes Personal. Auch Quarantäne-Situationen legen das Gesundheitssystem lahm. Wenn in kleinen Praxen ein Arzt fehlt, ist die Praxis zu, obwohl Hunderte Patienten von ihr abhängig sind. Ein weiteres Problem: Wenn weltweit Schutzausrüstung, Medikamente, Impfungen benötigt werden, kommt das System an seine Grenzen.
Wie sind der Landkreis und seine Bewohner aus Ihrer Sicht durch dieses Corona-Jahr gekommen?
Ullmann: Bis auf den Befall der Heime mit den zu beklagenden Toten ist der Landkreis gut durch die Krise gekommen. Wir haben hier eine hervorragende Zusammenarbeit von Landratsamt, Kliniken, Technischem Hilfswerk, Polizei, BRK, Bundeswehr, Feuerwehr, Schulen, Kassenärztlicher Vereinigung und vielen weiteren Beteiligten. Das klappt hervorragend. Es hat mich wirklich beeindruckt, wie viel in wie kurzer Zeit auf die Beine gestellt werden kann. Zum Beispiel, als es um die Einrichtung der Schwerpunktpraxis in Friedberg ging. Nach ein bis zwei Tagen ist sie gestanden. Normalerweise dauert das ein halbes Jahr. Es war ein extrem effektives Arbeiten und hat dem Landkreis viel gebracht. Es ist enorm, mit wie viel persönlichem Einsatz und mit wie vielen Überstunden alle mithelfen. Da tun viele wirklich viel.
Was ist weniger gut gelaufen?
Ullmann: Die Anfänge des Distanzunterrichts, so wie ich das von meinen Mitarbeitern mitbekommen habe. Auch die Informationskultur der Regierungsstellen, aufgrund der wir von Beschlüssen oft aus der Presse erfahren haben. Beschlüsse, deren Umsetzung am Kleingedruckten scheiterte, weil der zweite Schritt nicht mitgedacht wurde. Zum Beispiel bei der Aussage, dass alle Schüler getestet werden sollen. Aber wo? Tausende Schüler zu testen, ist für die Praxen zu viel. Auch die Testzentren waren darauf nicht vorbereitet. Ein weiterer Punkt: Die Isolation der Heimbewohner. Die Besuchsbeschränkungen waren schon ein großes Problem, auch wenn keiner was dafür kann.
Was waren die größten Herausforderungen, auch für Sie als ärztlicher Koordinator?
Ullmann: Die Doppelbelastung Praxis, Versorgungsarzt, Familie. Im April, Mai war ich fast nicht mehr in der Praxis, sondern nur noch am Landratsamt. Vor allem der Aufbau der Schwerpunktpraxen im alten Aichacher Krankenhaus und im Gehörlosenzentrum in Friedberg war schon ein Akt.
Was hat sich in einem Jahr mit dem neuartigen Coronavirus positiv verändert?
Ullmann: Sicherlich die Wichtigkeit sozialer Kontakte. Aber es hat sich auch viel Kreativität entwickelt. Denken wir nur an die ganzen Online-Konzerte, Briefkontakte in Heime oder Zoom-Aktivitäten [Internet-Anwendung für Videokonferenzen, Anm. d. Red.].
Und zum Negativen?
Ullmann: Die wirtschaftliche Situation ist für viele eine Katastrophe. Ebenso die psychische Belastung. Wir hier auf dem Land haben es gut – vor allem, wenn wir einen Garten haben. Aber in einer engen Wohnung mit französischem Balkon sieht das anders aus. Ich denke auch, dass die häusliche Gewalt zugenommen hat.
Was macht Ihnen angesichts der weiteren Entwicklung der Pandemie die größten Sorgen?
Ullmann: Weniger die medizinischen als die wirtschaftlichen und psychischen Folgen. Schüler und Studenten zum Beispiel vereinsamen zu Hause. Viele müssen ihr Studium abbrechen, weil sie keine Einkunftsmöglichkeiten mehr haben.
Gibt es eine Zeit „nach Corona“?
Ullmann: Ich denke, dass wir in den nächsten Jahren mit dem Virus werden leben müssen. Es wird zwar nicht so sein, dass wir nur noch mit Maske rumlaufen. Aber ich könnte mir schon vorstellen, dass wir sie bei Massenveranstaltungen oder in den Wintermonaten auch in Zukunft tragen. Auch mit den Virus-Mutationen werden wir leben müssen. Aber wenn wir einen Impfstoff haben, den wir anpassen können und möglicherweise wie eine Grippeschutzimpfung auffrischen müssen, ist das machbar.
Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn wieder so etwas wie Normalität möglich ist?
Ullmann (lacht): Auf das Gefühl der Freiheit. Darauf, bei schönem Wetter in einem Café zu sitzen, Veranstaltungen besuchen, wegfahren und ohne Einschränkungen sozialen Kontakten nachgehen zu können.
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