Elf Bewohner des Aichacher AWO-Heims sind an Covid-19 gestorben, sechs weitere verstorbene Bewohner waren mit dem Coronavirus infiziert. Wäre dessen Ausbreitung in dem Heim vermeidbar gewesen? Das Gesundheitsamt ist der Ansicht: Ja. Sein Leiter, Dr. Friedrich Pürner, selbst Epidemiologe, sagt: "Das Heim hätte die Ausbreitung verhindern können."
Gesundheitsamt: Heim hätte Ausbreitung "Anfang April stoppen können"
Verdachts- oder Erkrankungsfälle könnten vorkommen. Aber dann müssten alle Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Das sei im AWO-Heim nicht passiert. Die Entwicklung "hätte man Ende März, Anfang April stoppen können, wenn man die richtigen Maßnahmen ergriffen hätte", so Pürner. Doch immer weitere Bewohner und Mitarbeiter seien erkrankt. Um das aufzuarbeiten, wurden vor zwei Wochen 62 Bewohner und 92 Mitarbeiter getestet.
Pürner stellte am Mittwoch die Ergebnisse dieser Reihentestung sowie früherer Tests vor. So ergaben frühere Tests und die Reihentestung, dass insgesamt über die Hälfte der rund 60 Bewohner sich mit dem Virus infiziert hat. Von über 90 Mitarbeitern wurden insgesamt 24 positiv getestet.
Mitarbeiter war erste Person im AWO-Heim Aichach, die Symptome zeigte
Ein Mitarbeiter war die erste Person im Heim, die Mitte März Symptome zeigte. In den darauffolgenden Tagen hatten weitere Mitarbeiter Symptome, bald auch erste Bewohner. Pürner schließt aus den Daten: "Aus epidemiologischer Sicht kann man vermuten, dass der symptomatische Mitarbeiter (das Geschlecht der Person blieb offen, Anm. d. Red.) ursächlich war für die Infizierung der ersten Bewohner." Der erste Mitarbeiter mit Symptomen habe noch gearbeitet.
Schon vor zwei Wochen hatte Pürner dem Heim vorgeworfen, dass kranke Mitarbeiter weiter zur Arbeit gegangen seien. Er wiederholte auch die Kritik, wonach das Heim die Meldepflicht nicht eingehalten habe. Am 31. März sei das Amt durch positive Laborbefunde aufmerksam geworden, dass es vier erkrankte Bewohner im Heim gebe – alle im selben Wohnbereich. "Die AWO ist bis dahin nie auf uns zugekommen und hat gesagt: Wir haben kranke Bewohner oder Mitarbeiter." Was für ihn noch schwerer wiegt: Auch Schutzmaßnahmen seien nicht ergriffen worden. Als Mitarbeiter des Amtes am 31. März im Heim eintrafen, seien nicht mal die betroffenen Bewohner isoliert gewesen. Schutzkleidung sei gerade erst auf die Station gebracht worden, Zimmertüren infizierter Bewohner offen gestanden.
Corona-Testergebnisse des Aichacher AWO-Heims
Bewohner
Anfängliche Tests Zwischen 31. März und 22. April wurden laut Gesundheitsamt 39 Bewohner des Aichacher AWO-Heims auf Covid-19 getestet. Ergebnis: Neun waren negativ, 30 positiv.
Bewohner
Reihentestung Bei einer Reihentestung am 22. April wurden dem Gesundheitsamt zufolge alle 62 Bewohner des Aichacher AWO-Heims auf das Coronavirus getestet. Das Ergebnis: 54 waren negativ, acht positiv. Von den acht positiv Getesteten waren vier aufgrund der vorherigen Tests bereits bekannt, vier weitere kamen neu hinzu. Von den vier „neuen“ positiv Getesteten hatten zwei coronatypische Symptome, zwei hatten keine Symptome.
Mitarbeiter
Anfängliche Tests Zwischen 31. März und 22. April wurden laut Gesundheitsamt 32 Mitarbeiter getestet. Ergebnis: 15 negativ, 17 positiv.
Mitarbeiter
Reihentestung Bei einer Reihentestung am 23. April wurden dem Gesundheitsamt zufolge alle 92 Mitarbeiter getestet. Ergebnis: 84 waren negativ, acht positiv. Von den acht positiv Getesteten war einer bereits durch die vorherigen Tests bekannt, die sieben weiteren kamen neu hinzu. Von diesen sieben hatten drei Symptome – einer war bis zum Testergebnis im Dienst –, vier hatten keine Symptome – drei von ihnen waren bis zum Testergebnis im Dienst.
In einer Stellungnahme vom vergangenen Freitag schrieben Heinz Münzenrieder, Vorsitzender der AWO Schwaben, und Vorstandsvorsitzender Dieter Egger, "die gesamten Betriebsabläufe im Hause" seien umgehend untersucht worden: "Im Gegensatz zu den öffentlichen Vorwürfen des Gesundheitsamts sind keine gravierenden Fehler im Bereich der Infektionshygiene aufgetreten. Einzelne eher untergeordnete Kritikpunkte sind der noch nie so aufgetretenen Belastungssituation geschuldet." Münzenrieder und Egger verwiesen auf die angespannte Personallage, da zeitweise über 30 Mitarbeiter erkrankt oder in Quarantäne waren. In früheren Gesprächen mit unserer Redaktion hatte Egger Vorwürfe des Amts zu Personalmangel verneint. "Die Personalausstattung war in den ganzen letzten Wochen mehr als ausreichend – beim Fach- wie Hilfspersonal", sagte er Ende vorletzter Woche.
Gesundheitsamtsleiter: "Strukturelles Problem" hinter Geschehen in Aichach
Pürner sagte am Mittwoch, spätestens angesichts der Erkrankungen Ende März habe das Heim wissen müssen, dass es mit einem Ausbruch zu tun habe. "Es obliegt ganz klar der Leitung, die Mitarbeiter zu schulen." Das habe mit Qualitätsmanagement zu tun. Dass auch der Heimleiter erkrankte, sei keine Entschuldigung. Pürner weiter: "Ich vermute ein strukturelles Problem dahinter." In keinem anderen Heim im Landkreis starben Bewohner am Coronavirus. Nur vereinzelt habe es Verdachts- oder positive Fälle gegeben. Im Aichacher AWO-Heim dagegen gab es Ende März fünf positiv getestete Bewohner, wenige Tage später doppelt so viele. Wieder wenige Tage später hatte sich die Zahl erneut verdoppelt. Pürner erklärt die unterschiedliche Entwicklung so: "Wichtig ist, dass man den Ausbruch gleich erkennt und die richtigen Maßnahmen ergreift."
Im AWO-Heim seien selbst später noch bestimmte Infektionshygiene-Maßstäbe nicht eingehalten worden. Erst nach der zweiten Heimbegehung sei die Kurve der Erkrankten abgeflacht, ab 20. April habe es "fast nichts mehr" gegeben. Pürner folgert: "Es sind reine Infektionsschutzmaßnahmen, die helfen. Nicht Tests." Sie seien wegen der zweiwöchigen Inkubationszeit nur Momentaufnahmen und nicht hundertprozentig zuverlässig. Die AWO hatte den späten Reihentest mehrfach kritisiert.
AWO: Nicht mehr zu öffentlicher Diskussion über angebliche Fehler bereit
AWO-Vorstand Wolfgang Mayr-Schwarzenbach sagte am Mittwoch auf Nachfrage, einzelne Testergebnisse lägen der AWO zwar vor. Nicht jedoch "ein zusammengefasstes Ergebnis und schon gleich gar keine Erläuterungen oder Schlussfolgerungen". Darauf warte man bislang vergeblich. "Wir sind überrascht über ein solches Vorgehen eines staatlichen Amtes." Heinz Münzenrieder ergänzte: "Wir sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr bereit, eine Diskussion in der Öffentlichkeit darüber zu führen, ob oder wann angebliche Verfehlungen im Zusammenhang mit den bedauernswerten Vorkommnissen in unserem Haus in Aichach stattgefunden haben."
Es entspreche "den Vorgaben des Verwaltungsverfahrensgesetzes, eventuelle Vorwürfe zunächst den betroffenen Verantwortlichen mitzuteilen, um ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, Stellung zu beziehen beziehungsweise die Vorwürfe auszuräumen". Weiter heißt es in der Mitteilung: "Im Übrigen gehen wir hiervon aus, dass wir mit unseren Pressenotizen aus der vergangenen Woche das derzeit Nötige publiziert haben."
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