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Aichach: Was eine Psychologin im Frauengefängnis erlebt hat

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Was eine Psychologin im Frauengefängnis erlebt hat

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    Fast 20 Jahre arbeitete Sieglinde Aigner im Gefängnis in Aichach. Derzeit sind dort rund 520 Frauen und Männer inhaftiert.
    Fast 20 Jahre arbeitete Sieglinde Aigner im Gefängnis in Aichach. Derzeit sind dort rund 520 Frauen und Männer inhaftiert. Foto: Christian Kirstges (Archiv)

    Wenn Sieglinde Aigner durch ihre Heimatstadt geht, begegnet sie meist einigen Bekannten. Man redet übers Wetter, lacht, ein bisschen Small Talk eben. Schließlich ist die 72-Jährige ein echtes Vöhringer Gewächs, sie ist hier geboren und aufgewachsen, arbeitet jedoch in München. Wer die Leichtigkeit sieht, mit der sie auf andere zugehen kann, käme wohl nie auf den Gedanken, dass sie lange Zeit im Gefängnis war – genauer gesagt im Aichacher.

    "Ich war im Knast", spöttelt Aigner selbst mitunter. Auf dem Kerbholz hat sie, die den Verein für Stadt- und Industriegeschichte leitet, allerdings nichts – sondern einen außergewöhnlichen Berufsweg hinter sich.

    Als Psychologin war Aigner gut 17 Jahre – von März 1981 bis Juli 1998 – in der Justizvollzugsanstalt Aichach tätig. Dort hat sie einiges erlebt: menschliche Schicksale und schreckliche Geschichten. Sie saß Dutzenden Straftätern gegenüber, hatte mit Kindsmörderinnen zu tun, mit Prostituierten, Betrügern und Dieben. Aber nie kommt das Wort "Sträfling" über ihre Lippen. Für sie waren Männer und Frauen, die eine Straftat begangen hatten, Menschen, denen man helfen musste. Ob diese Hilfe gelang? Da antwortet sie nur: "Ein Drittel schafft den Sprung ins normale Leben, zwei Drittel kommen zurück." Und dann schwingt ein bisschen Resignation in der Stimme mit.

    Sigmund Freud gab der Psychologin den Anstoß

    Ihren beruflichen Weg hat sie sich selbst vorgegeben: Als sie begann, als Zwölfjährige auf ihren Fahrten zur Schule Sigmund Freud zu lesen, den Urvater der Psychoanalyse. Das Thema faszinierte sie. Sie wollte Psychologie studieren. Doch zunächst sah es nicht so aus, als ob ihr das gelingen würde. Sieglinde Aigner stammt aus einer Handwerkerfamilie. Das Geld war knapp. So erübrigte sich die Frage nach dem Besuch des Gymnasiums. Die Mittlere Reife schaffte sie an der damaligen Mittelschule – heute Realschule – in Neu-Ulm.

    Aber sie gab den Gedanken an ein Studium nie auf. 1969 begann sie als Beamtin beim Fernmeldeamt Ulm, wechselte dann nach München. "Dort gab es ein Abendgymnasium und ich konnte dort Abitur machen." Nach vier Jahren hatte sie es geschafft. Sie wurde mit 1,5 benotet. Aigner studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität und hielt 1981 ihr Diplom in Händen. Ihre Abschlussarbeit beschäftigte sich mit der "Psychologie im Strafvollzug." Was die Professoren damals überzeugte, war nicht nur die reale Situation der Psychologen in Haftanstalten, sondern auch deren Typisierung. "Da gibt es die Organisatoren, den durch seine Arbeit zum Zyniker gewordenen Psychologen, den Pragmatiker und den realistischen und idealistischen Therapeuten." Sie zählt sich zu den Letztgenannten.

    Auch die Familiengeschichte motivierte Aigner

    Ihre Motivation für diesen Beruf sei auch familiär begründet gewesen: "Ich war betroffen darüber, dass mein Großvater in den 1920er Jahren als politisch Gefangener in Haft saß." Er gehörte der SPD an und war Gewerkschaftsanhänger. "Das hat mich politisiert." Sieglinde Aigner sagt von sich selbst: "Ich war eine Achtundsechzigerin und nahm an Ostermärschen teil." Erst "interessante gesetzliche Veränderungen im Strafvollzugsgesetz" holten sie aus der Revoluzzer-Ecke. Jetzt hieß es Rehabilitation statt Strafe, für sie ein enormer Fortschritt. In der Justizvollzugsanstalt in Aichach lernte sie, den Begriff Freiheit richtig zu begreifen. "Die Türe öffnen zu können und nach draußen zu gehen, wohin man will, das ist Freiheit."

    Als sie als Praktikantin in Bernau am Chiemsee in einem Männergefängnis arbeitete, wohnte sie innerhalb der Haftanstalt. "Es musste immer jemand kommen und mir die Türe aufschließen. Dann aber hinauszugehen und zu sehen, wie sehnsuchtsvoll die Menschen hinter den Stäben in diese Freiheit blickten, tat weh." In Aichach waren die Gespräche mit Siggi, wie sie genannt wurde, sehr gefragt. Die Psychologin interessierte sich für das Umfeld, aus dem ein Inhaftierter stammte. "Das war ungemein wichtig, weil man wusste, wo man mit der Therapie ansetzen konnte." So habe etwa eine junge Frau, die ihr Kind direkt nach der Geburt umbrachte, nie kennengelernt, was es heiße, für ein kleines Wesen zu sorgen.

    Sieglinde Aigners Motivation für diesen Beruf sei auch familiär begründet: "Ich war betroffen darüber, dass mein Großvater in den 1920er Jahren als politisch Gefangener in Haft saß."
    Sieglinde Aigners Motivation für diesen Beruf sei auch familiär begründet: "Ich war betroffen darüber, dass mein Großvater in den 1920er Jahren als politisch Gefangener in Haft saß."

    Sieglinde Aigner erzählt von Ingrid van Bergen

    Eine prominente Gefangene in der Aichacher JVA war Ingrid van Bergen. Eine Schauspielerin, die 1977 ihren Geliebten erschossen hatte. "Sie war umgänglich, arbeitete in der Gärtnerei, fügte sich ein, man konnte sich gut mit ihr verstehen", so Aigner. Vera Brühne kennt die Psychologin dagegen nur vom Hören-Sagen. Ihr wurde berichtet, dass die mutmaßliche Mörderin kein Gnadengesuch eingereicht hat. Sie wolle keine Gnade, sondern Gerechtigkeit, hieß es. Brühne galt im Gefängnis als "graue Eminenz."

    Das Anliegen Aigners war, den Straftätern Bildung zu vermitteln, eine Chance in die Normalität zurückzufinden. Dann wird sie deutlich: "Im Knast trennt sich die Spreu vom Weizen. Da reicht die Palette vom richtig fiesen Charakter bis hin zu herzlichen Menschen". Aigner versuchte, loyal gegenüber den Gefangenen zu sein und ebenso Loyalität der Gefängnisleitung gegenüber zu zeigen, "ein oftmals schwieriger Spagat". Ihr war wichtig, dass der Täter Verantwortung für seine Tat übernahm. Wenn sie das vermitteln konnte, sah die Zukunftsperspektive für diesen Menschen durchaus positiv aus.

    Heute betreibt sie in München eine Praxis als Psychoanalytikerin. Abgeschlossen hat sie mit der Zeit im Knast aber nicht: "Wenn ich Dankesbriefe von "Ehemaligen" bekomme, die den Sprung in einen normalen Alltag geschafft haben, erfüllt mich das mit Freude."

    JVA Aichach: Geschichte, Zahlen, Insassen

    Geschichte

    Lieber ein Frauengefängnis als ein Standort für eine Militärgarnison mit feschen Soldaten – so entschied der Aichacher Stadtrat vor über hundert Jahren mit Blick auf die Moral der jungen Bürgerstöchter. Die Anstalt wurde 1904 bis 1908 als Haftanstalt für weibliche katholische Strafgefangene errichtet. Anfang 1909 zogen die ersten Gefangenen in die JVA ein. 1935 wurde das Arbeitshaus für Frauen nach Aichach verlegt.

    Über den Wolken ist die Freiheit grenzenlos: das Aichacher Frauengefängnis von oben.
    Über den Wolken ist die Freiheit grenzenlos: das Aichacher Frauengefängnis von oben.

    Größe

    Das Gelände ist 10,5 Hektar groß (das entspricht etwa 15 Fußballplätzen). Der Zaun ist 960 Meter lang. Die Anstalt besteht aus einem kleineren Männerhaus und einer Frauenabteilung, die in vier Flügel (A – D) aufgeteilt ist. Jeder Flügel besteht aus drei Stockwerken. Dazu kommen Arbeitsbetriebe, Werkstätten, Versorgungszentrum Verwaltung, etc.

    Belegung

    Die Haftanstalt ist momentan mit etwa 400 weiblichen und rund 120 männlichen Strafgefangenen belegt. Im offenen und geschlossenen Vollzug hat die JVA Aichach insgesamt 16 Hafträume für die Mutter-Kind-Abteilung.

    Bekannte Inhaftierte

    Brigitte Mohnhaupt, frühere RAF-Terroristin (entlassen 2007); Ingrid van Bergen, Schauspielerin (entlassen 1981); Vera Brühne, verurteilt wegen Doppelmords in einem aufsehenerregenden Prozess (entlassen 1979).

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