Ausgerechnet Dieter Geßler. Angekündigt hatten die Veranstalter der Querdenken-Demo in Aichach, dass neben einigen altbekannten wie umstrittenen Rednern ein "Mitarbeiter Altersheim Aichach" auftreten sollte. Aber Geßler? Jener Leiter des AWO-Seniorenheims, in dem im Frühjahr 17 Menschen an oder mit Corona starben? Ja. Um kurz vor 16 Uhr trat Geßler vor den rund 800 Teilnehmern ans Mikrophon, sprach von Mundschutz-Masken als "Merkel-Söder-Pampers" und einer angeblichen "Plandemie". Nun, mit wenigen Tagen Abstand, sagt Geßler im Gespräch mit unserer Redaktion: "Es war ein Fehler".
Reaktionen auf Geßlers Auftritt ließen nicht lange auf sich warten. Am Sonntagmorgen, 3.38 Uhr, verschickte die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Schwaben eine Stellungnahme. Darin distanzierte sich Heinz Münzenrieder, Vorsitzender des schwäbischen AWO-Präsidiums, deutlich von Geßlers privater Meinungsäußerung. Landrat Klaus Metzger zeigte sich im Gespräch mit unserer Redaktion "verblüfft" über Geßlers Auftritt. Er finde zwar, "das muss er für sich selbst entscheiden", der Auftritt sei aber "grenzwertig".
Aichachs Bürgermeister Klaus Habermann erklärte, er sei überrascht und habe den Auftritt "nicht verstanden". Er habe Geßler als "fürsorglichen Heimleiter" kennengelernt. So oder so ähnlich äußern sich gegenüber unserer Redaktion zahlreiche Wegbegleiter von Geßler. Was also hat den 58-Jährigen zu dem Auftritt bewogen?
Umstrittener Auftritt von AWO-Seniorenheim-Leiter Dieter Geßler
Geßlers Auftritt auf dem Aichacher Volksfestplatz dauerte rund zehn Minuten. Danach musste er auf mehrfache Aufforderung von Moderatorin und Organisatorin Michaela Königsberger von der Bühne - ohne das gesagt zu haben, was ihm besonders am Herzen lag. "Zu meinem wichtigsten Punkt bin ich nicht gekommen: Senioren sind zwar durch das Virus besonders gefährdet, und sie müssen deshalb besonders geschützt werden. Ich habe aber die Befürchtung, dass reine Isolierung und soziale Distanzierung bei älteren Menschen große Risiken bergen." Es gehe ihm vor allem um fehlende "Verhältnismäßigkeit" der Maßnahmen. "Ich wollte zum Nachdenken anregen, welche Lösungen es sonst noch gibt." Er sei aber kein Corona-Leugner und kein Verschwörungstheoretiker. "Davon distanziere ich mich."
Das klang am Samstag noch anders. Während seines Auftritts sagte Geßler, er habe sich im Internet ausführlich über die Corona-Pandemie informiert und sei dabei auf einen Haushaltsentwurf der bayerischen Staatsregierung für das Jahr 2020 gestoßen. Der Entwurf stamme aus dem Jahr 2019, allerdings seien darin bereits Gelder für Corona-Maßnahmen veranschlagt worden. Dies zeige ihm: "Das ist eine Plandemie". Dabei handelt es sich um eine häufig verbreitete Verschwörungstheorie, nach der die Pandemie absichtlich ausgelöst worden sei. Unmittelbar nach Geßlers Auftritt stellte Organisatorin Königsberger klar, der erste Haushaltsentwurf stamme aus dem Jahr 2019, er sei jedoch laufend angepasst worden. Dies sei im Plan auch ersichtlich. "Dass mich Frau Königsberger korrigiert hat, war richtig. Da war ich auf dem falschen Dampfer", sagt Geßler nun. "Ich wollte nichts Falsches unterstellen. Für den Ausdruck 'Plandemie' möchte ich mich entschuldigen."
Corona-Demo in Aichach: Waren rechtsextreme Teilnehmer dabei?
Geßler sagt, er sei Ende Oktober nach einer Corona-Demo in Landsberg am Lech mit einem Helfer ins Gespräch gekommen. "Er hat dann gemeint, ob ich nicht Interesse hätte, auf einer Kundgebung zu sprechen. Ich sagte: 'Warum nicht?'" So sei schließlich Kontakt zum "Bürgerforum Schwaben" entstanden, einem Zusammenschluss, der regelmäßig Corona-Maßnahmen kritisiert, vor allem in Königsbrunn aktiv ist und dessen Vorsitzende Michaela Königsberger ist. Inzwischen, sagt Geßler, habe sich in ihm mit Blick auf die Demo "ein gewisses Unbehagen" breitgemacht. Zwar sei die Veranstaltung aus seiner Sicht "äußerst friedlich" abgelaufen. "Aber ich sehe auch die Gefahr, dass sich da Rabauken unterschmuggeln, die einen vor den Karren spannen wollen."
Wie der Blog "Rechte Umtriebe Augsburg" berichtet, waren während der Demo in Aichach mehrere Teilnehmer mit Verbindungen ins rechtsextreme Milieu anwesend. Dazu zählten Vertreter der rechtsextremen Gruppierung "Identitäre Bewegung", Mitglieder der Augsburger Kampfsportschule Tigers Arena sowie Nick D., der laut "Rechte Umtriebe Augsburg" Anhänger der Neonazi-Kameradschaft "Voice of Anger" ist. Geßler: "Wenn das so stimmt, will ich damit nichts zu tun haben. Ich möchte nicht auf der Bühne vor Rechten stehen." Kontakte in die Querdenker-Szene pflege er nicht.
Dieter Geßler will "AWO aus der Sache heraushalten"
Anfang Juli dieses Jahres durchsuchte die Kriminalpolizei das Seniorenheim, die Angehörige eines verstorbenen Heimbewohners hatte Anzeige wegen fahrlässiger Tötung erstattet. Die Ermittlungen sowie die Auswertung der Unterlagen dauern an, wie Matthias Nickolai, Sprecher der Staatsanwaltschaft Augsburg, auf Nachfrage bestätigt. Scharfe Kritik an der Heimleitung um Geßler kam damals auch vom ehemaligen Leiter des Gesundheitsamts Aichach-Friedberg, Friedrich Pürner.
Geßler sagt, er sei nach wie vor davon überzeugt, damals alles Menschenmögliche zum Schutz der Bewohner getan zu haben. Jedoch trieben ihn nach wie vor quälende Gedanken um. "Wenn in so kurzer Zeit so viele Menschen im Umfeld sterben - das ist ein Trauma, für alle Beteiligten." Geßler, der die Leitung 2013 übernahm, ist seit dem Frühjahr krankgeschrieben. "Ich bin mit der Situation damals nicht klargekommen. Das hat mich krank gemacht." Dass er bei seinem Auftritt in Aichach die Gefühle der Angehörigen der verstorbenen Heimbewohner außer Acht gelassen habe, tue ihm leid. "Ich habe gar nicht daran gedacht, dass ich sie durch meinen Auftritt verletzen könnte. Jetzt, im Nachhinein, würde ich das so nicht mehr machen. Das war ein Fehler."
Eines sei ihm besonders wichtig zu betonen, sagt Geßler am Ende des fast eineinhalbstündigen Gesprächs. "Ich war dort als Privatperson. Das habe ich vor meinem Auftritt auch ausdrücklich so gesagt, um die AWO aus der Sache rauszuhalten." Da ihn trotzdem viele als Leiter des Heims identifizierten, könne er auch die Kritik vonseiten seines Arbeitgebers nachvollziehen. Ob er sich nach seiner Krankschreibung vorstellen kann, wieder an seine alte Stelle als Leiter des AWO-Seniorenheims zurückzukehren? "Das kann ich nicht sagen."
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