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Affing: Das Leben nach dem Tornado

Affing

Das Leben nach dem Tornado

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    Barbara und Michael Specht haben fast das ganze Haus verloren.
    Barbara und Michael Specht haben fast das ganze Haus verloren. Foto: Ulrich Wagner

    Am Fuß des Hügels steht ein Dixie-Klo. Wenige Meter daneben führen 43 breite, flache Stufen hinauf zur Salzbergkapelle. Die Tritte sind mit Granit eingefasst, es gibt einen Handlauf aus Edelstahl. Droben ist Baustelle. Ein Zaun verhindert den Zutritt zur Kapelle. Daneben steht eine Madonnen-Figur auf einem Granitsockel. Wer genau hinsieht, entdeckt, dass ihr der rechte Zeigefinger fehlt. Er würde ins Lechfeld weisen. In die Richtung, aus der vor einem Jahr, am 13. Mai, ein Tornado herangerast ist.

    Der Wahnsinnswind am Vorabend von Christi Himmelfahrt dauert nur ein paar Minuten. Doch wo er durchfegt, ist nichts mehr, wie es war. Im Langweider Ortsteil Stettenhofen hat er gewütet, ehe er über den Lech stürmt. Er erwischt Anwalting, dann die kleine Anhöhe, den Salzberg. Danach ist dort das Wäldchen weg und die Kapelle hat kein Dach mehr und keinen Turm. Die Madonna daneben aber steht ungerührt auf ihrem Sockel. Um sie herum liegen entwurzelte Bäume, zerborstene Stämme, abgebrochene Äste. Es gibt Leute, die von einem Wunder sprechen.

    Das Ereignis berührt auch Pfarrer Max Bauer. Für ihn liegt das Wunder vor allem darin, „dass so viele Schutzengel unterwegs waren“. Es gibt keine Todesopfer, nur sieben Leichtverletzte. Dabei ist es haarscharf gewesen für manche. Den Pfarrer packt’s bei der Erinnerung noch immer. Seine Stimme bricht kurz, als er von dem Vater erzählt, der das Rollo öffnet und eine Schaukel aufs Fenster zurasen sieht. Er kann sich noch mit seinen Kindern zu Boden werfen, ehe die Schaukel durchs Glas knallt. Woanders kracht ein Balken auf ein Bett, in dem fünf Minuten zuvor noch jemand gelegen hat. Solche Geschichten gibt es viele.

    Plötzlich fliegt das Küchenfester auf den Kopf

    Familie Schlecht weiß auch eine zu erzählen. Ihr Haus am Rand von Gebenhofen ist das erste nach dem Salzberg, das der Tornado packt. „Bei uns hätten ein paar tot sein können“, sagt Michael Schlecht. Dem Familienvater fliegt das Küchenfenster auf den Kopf. Er kommt mit einem Venenriss am Ellbogen und einer Platzwunde am Kopf davon. Seine 19-jährige Tochter erleidet einen Kahnbeinbruch an der Hand. Und dabei hat sie Glück. Denn sie hat ihr Zimmer verlassen, um ihrer Freundin zu helfen, ein Fenster zu schließen. Nur zehn Sekunden später fliegt drüben das Fenster quer durch ihr Zimmer, reißt die Tür aus den Angeln. Nicht auszudenken, wäre sie noch drin gewesen. Der Tornado reißt das Dach samt Dachstuhl vom Haus. Nur zwei Fenster bleiben heil. Bild und Dekoration hat’s im Herrgottswinkel neben dem Küchenfenster von der Wand gerissen. Das Kreuz dazwischen hängt noch am kleinen Nagel, darunter steht die Madonna. Unversehrt wie die vom Salzberg.

    Ihr Dach finden die Schlechts später 150 Meter vom Haus entfernt. Kisten vom Dachboden liegen 400 Meter weiter bei Stefan Haas. Auf dem Hof des Landwirts, den er im Nebenerwerb betreibt, herrscht Chaos. Seine Frau Marlen ist bis heute froh darüber, dass ihr Jüngster damals wegen des Blinddarms im Krankenhaus lag. Es war schlimm genug für die Tochter, 15, und den ältesten Sohn, 17. Das Haus wackelt, als ob es einstürzen will, draußen fegt der Sturm vier Stadel davon. 80 Bullen haben kein Dach mehr überm Kopf. Am Haus ist der Dachstuhl beschädigt, die Wohnung wenigstens ist heil geblieben.

    Die größte Katastrophe im Landkreis Aichach-Friedberg

    Im Morgengrauen des 14. Mai wird das wahre Ausmaß des Unheils erst sichtbar. Bürgermeister Markus Winklhofer sieht im Licht der aufgehenden Sonne: „Das ist was ganz Großes, ganz Schlimmes.“ In einer bis zu 200 Meter breiten Schneise liegt die Welt in Trümmern. Auf den Straßen steht man knöcheltief in Dachplatten, den Anblick bezeichnet er als „kriegsähnlich“. Alte Gebenhofener fühlen sich an den Bombenangriff der Amerikaner im April 1945 erinnert. Wochen später spricht Winklhofer von der größten Katastrophe in der Geschichte des Landkreises Aichach-Friedberg.

    Die Hilfsbereitschaft ist beispiellos. Von überall her rücken Helfer an. Feuerwehrler und Kräfte des THW, aber auch tausende Freiwillige packen an. Diese Unterstützung ist es, die die Betroffenen aufrecht hält. Noch heute staunt Stefan Haas: „Ich habe nie damit gerechnet, dass die Hilfsbereitschaft so groß ist.“ Sogar Helfer aus Kempten und Memmingen stehen im Hof. Am liebsten würde sie allen persönlich Danke sagen, meint Marlen Haas. Sie und ihr Mann planen ein Fest, ebenso die Schlechts, als Dank für die Helfer. „Wenn wir die nicht gehabt hätten.“

    Luftaufnahme vom 14.05.2015 zeigt Unwetterschäden in der Gemeinde Affing, Landkreis Aichach Friedberg (Bayern). Ein schweres Unwetter in den späten Abendstunden des 13.05.2015 verursachte in der Region Schäden in Millionenhöhe. Foto: Mario Lindner/LSV Aichach dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++
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    Ein Unwetter hat in der Region im Mai 2015 eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Dächer wurden abgedeckt, Menschen verletzt und Häuser evakuiert.

    Vielleicht hätten sie allein gar nicht die Kraft gefunden anzufangen. So aber wird einfach angepackt. Ein Jahr seien sie praktisch nicht aus den Arbeitsklamotten gekommen, sagt Michael Schlecht. Wie ihm geht es vielen Betroffenen. Irgendwie aber überstehen sie es alle. Auch wenn Schweiß und Tränen fließen, es nur ums Aufräumen geht und den Wiederaufbau, ums Feilschen mit Versicherungen, ums Rechnen, ob das Geld reicht. Bei der Salzbergkapelle ist das zum Glück nicht nötig. Sie war gut versichert. Das Dach ist seit Monaten wieder drauf. Jetzt wird innen renoviert.

    Eine Renovierung reicht bei den Schlechts nicht. Nach dem Tornado ist ihr Haus beinahe unbewohnbar. „Es war ein kompletter Neuanfang“, sagt der 45-jährige Baggerfahrer. Aus heutiger Sicht hätte er das Haus lieber weggerissen. Doch für einen Neubau gibt’s kein Geld von der Versicherung. Immerhin: Die Schwiegereltern können in ihrer Wohnung im Erdgeschoss schlafen, er und seine Frau hausen im Keller, Sohn und Tochter schlafen bei Freunden. Fünf Wochen brauchen sie ein Dixie-Klo, nur aus einem Hahn im Keller kommt fließendes Wasser. Sechs Wochen haben die Schlechts keine Fenster, keine Heizung. Seit Weihnachten ist das Haus fertig, bis auf den Garten. Drinnen ist alles neu, vom Bad bis zur Küche, von den Böden bis zu den Fenstern. Doch „ich kann es noch gar nicht genießen“, sagt Barbara Schlecht. Trotz Versicherung zahlen die Schlechts im sechsstelligen Bereich drauf. Sie hoffen auf einen Anteil aus dem Spendentopf, in den 750000 Euro eingezahlt worden sind. Dass hier Nichtversicherte mehr bekommen sollen, ärgert Michael Schlecht. Gerecht sei das nicht, findet er.

    Am Baufortschritt wird häufig sichtbar, wer versichert war und wer nicht. Familie Haas war es, aber nicht gut. Sie hatte eine „Sturm/Hagel“, die allerdings nur das Inventar abdeckt. Eigentlich eine Unsinnsversicherung, die sich Stefan Haas selbst nicht erklären kann. Auf über eine halbe Million Euro berechnet er seinen Schaden. Für die Gebäude bekommt er nichts, mit der Inventarversicherung ist er nach hartem Kampf leidlich zufrieden. Nach dem Tornado legt er seine ganze Hoffnung auf den Freistaat. Schließlich steht Wirtschaftsministerin Ilse Aigner zwei Tage nach dem Unwetter betroffen in seinem Hof und versichert, die Opfer würden nicht im Stich gelassen.

    Bloß nie wieder ein Tornado

    Doch Stefan Haas und seine Familie fallen durchs Raster. Weil der 39-Jährige eine Arbeitsstelle hat und dazu den geerbten Hof, ist er nicht existenzgefährdet, also kein Härtefall. „Maßlos enttäuscht“ sei er darüber. Haas hat die Bullenmast aufgegeben und betreibt nur noch Ackerbau. Auf die neue Maschinenhalle, die vor kurzem fertig geworden ist, sind die Eheleute stolz. Und doch hadern sie. Dass der Dachausbau finanziell nicht drin ist. Damit, dass es noch so viel zu tun gibt. 250000 Euro hat sie der Tornado bislang gekostet. „Jetzt heißt’s arbeiten und abbezahlen“, sagt Marlen Haas. „Vielleicht gewinnen wir mal im Lotto.“ Die Antwort ihres Mannes ist Galgenhumor pur: „Eher kommt ein Tornado.“

    Was tun bei Unwettern?

    Wichtige Tipps, wie man sich bei Unwetter richtig verhält, hat das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zusammengestellt:

    Wo aufhalten?  Sich alleine in offenem Gelände zu bewegen ist gefährlich. Die Richtung eines Tornados ist nicht vorherzusehen, ebenso Geschwindigkeitsänderungen. Auch umherfliegende Trümmerteile können zur Gefahr werden. Daheim ist es vor allem im Keller sicher. Das bestätigt Wetterexperte Klaus Hager: „Dort bieten Sie keinen Widerstand, sind nicht im Freien.“

    Sich im Auto oder Wohnwagen zu verstecken ist gefährlich, da auch Autos von Tornados erfasst werden können.

    Gleichzeitig sollte man alle Hausöffnungen (Türen, Fenster) schließen, die Rollläden schließen und aufpassen, dass der Kellerzugang nicht versperrt ist oder werden kann.

    Wer sich regelmäßig über Unwetter informiert, zum Beispiel beim Deutschen Wetterdienst (DWD), kann schneller reagieren. UKW-Radio, Kerzen und ein Notfallkoffer mit den wichtigsten Dokumenten sind sinnvoll, wenn man plötzlich sein Zuhause verlassen muss. Für die Versicherung wird empfohlen, das Eigentum zu fotografieren. (seak)

    Unwetterwarnungen des Deutschen Wetterdienstes finden Sie im Internet unter www.dwd.de.

    Bloß das nie wieder. Dieser innige Wunsch eint alle Betroffenen. Noch immer beobachtet Marlen Haas das Wetter. Jetzt, rund um den Jahrestag, nimmt ihre Unruhe zu. Die Bilder im Kopf wird auch ihr Mann nicht los. Das Unbehagen beim Gedanken an die nahende Gewittersaison teilen auch die Schlechts. Noch dazu hat Michael Schlecht seither Kopfschmerzen und hört schlechter. Seine Frau ist im Februar mit Magenbeschwerden ins Krankenhaus gekommen. Gefunden haben die Ärzte nichts. Solche Spuren lassen sich nicht einfach wegräumen. Barbara Schlecht würde das gerne. Die 45-Jährige hat ein Fotobuch von ihren Schäden gemacht. Sie schließt es entschlossen. „Da drinbleiben“ soll der Tornado, denn verdaut, sagt sie, hätten sie das alles noch nicht.

    Da waren die sichtbaren Spuren leichter zu bewältigen. Ein Jahr später finden Auswärtige diese in der Gemeinde Affing kaum noch. Die 220 beschädigten Gebäude sind fast alle saniert, abgerissen oder wieder aufgebaut. In der Siedlung „Auf der Höh“ in

    Am Jahrestag werden die Affinger auf den Salzberg pilgern. Die Familien Haas und Schlecht wollen dabei sein, wenn Pfarrer Bauer dort eine Andacht hält. Sie bringen nicht nur Nöte mit. Dankbarkeit wird auch dabei sein: für die Hilfe, dafür, dass sie das Ausnahmejahr gemeinsam gemeistert haben und vor allem, dass sie sich noch alle haben. Inzwischen wachsen wieder kleine Bäume dort. Der elfjährige Christian Haas und seine sechste Klasse haben geholfen, einen neuen Wald zu pflanzen. Im Herbst, vielleicht auch erst im Frühjahr ist die Kapelle fertig. Dann kommt das Dixie-Klo weg. Was fehlt, ist der Finger der Madonna. Sie bekommt einen neuen. Das soll man erkennen, sagt der Pfarrer. Der Finger wird ins Lechfeld weisen. In die Richtung, aus der der Tornado gekommen ist. Ein Fingerzeig als Mahnmal sozusagen.

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