Es war eine Zecke, die alles verschlimmerte. Oliver Deml weiß nicht, wo er sich den Biss einfing. Er bemerkte ihn, als sich an seiner linken Rippenseite ein roter Fleck ausbreitete, eine Entzündung, die wuchs, bis sie groß war wie ein Teller. Erst dann ging er zum Arzt. Deml bekam Antibiotika, und sie halfen zunächst. Die Entzündung ging zurück, doch Demls Füße und Hände schwollen an, „bis die Finger aussahen wie Würstchen“, sagt Deml. 2010 war das. Damals lag er vier Wochen im Krankenhaus, die Ärzte entnahmen ihm Blut und Rückenmark, ehe sie eine Diagnose stellten: Reaktive Arthritis. Eine Entzündung der Gelenke, als Reaktion auf eine Infektion im Körper.
Deml, der sein Leben lang rheumatische Beschwerden hatte, leidet seitdem unter so starken Schmerzen in den Gelenken, dass er Medikamente braucht. Das einzige Schmerzmittel, das ihm helfe, sagt Deml, sei Cannabis. Wer ihn heute in seiner kleinen Wohnung im Augsburger Stadtteil Bärenkeller besucht, wird durch das Bild eines Hanfblattes begrüßt, das auf dem Briefkasten unter Demls Namen klebt. Drinnen riecht es süßlich nach Marihuana, an einer Wand hängt ein Hanfblatt-Poster. Deml, 33 Jahre alt, verheimlicht nicht, dass er Cannabis raucht. Es ist seine Therapie. Er trägt ein schwarzes Basecap und einen schwarzen Kapuzenpulli, seine Hände sind tätowiert. Er wirkt so lange ein wenig düster, bis er lächelt. Demls Lächeln verwandelt sein Gesicht, es ist entwaffnend und unverstellt und zeigt einen Menschen, der seine Fröhlichkeit nicht verloren hat, trotz aller Schicksalsschläge. Und davon gab es in Oliver Demls Leben ein paar.
Herkömmliche Schmerzmittel helfen nicht
Zum Beispiel die Sache mit den Schmerzmitteln. Nach der Diagnose bekam er erst leichtere Arzneien wie Ibuprofen, dann stärkere wie Tramadol. Sie seien wirkungslos geblieben, sagt Deml. „Mir wurde davon übel, und die Schmerzen blieben.“
Als auch die anderen Therapiemaßnahmen nicht wirkten, versuchte er es mit Cannabis. Er hatte als Jugendlicher Erfahrung damit gemacht und damals beobachtet, dass es auch seine rheumatischen Beschwerden linderte. Ein Arzt half ihm dabei, einen Antrag bei der Bundesopiumstelle einzureichen, die darüber entscheidet, ob jemand zu therapeutischen Zwecken Cannabis-Blüten erwerben und verwenden darf. Die Behörde entschied: Deml darf. Das Cannabis wirke, sagt er, und die Nebenwirkungen anderer Schmerzmittel blieben aus. Die Therapie ist für ihn zugleich sehr kostspielig.
Er ist einer von 270 Menschen in Deutschland, denen die Bundesopiumstelle eine Ausnahmegenehmigung zum Kauf von Cannabis-Blüten erteilt hat. Sie erhält nur, wer schwer krank ist und einen ärztlichen Nachweis vorlegen kann, dass er alle anderen möglichen Therapien ausprobiert hat und sie nicht geholfen haben. Manche Patienten rauchen die Blüten aus der Apotheke, andere machen Tee aus ihnen, alle müssen sie sie aus eigener Tasche bezahlen. Denn die Krankenkassen tragen die Kosten nicht.
Es ist nicht der Normalfall, dass Kranke in Deutschland mit Cannabis oder seinen Wirkstoffen behandelt werden, aber es ist auch nicht vollkommen außergewöhnlich. Insgesamt erhalten bei uns wohl an die 4000 Menschen eine Behandlung mit Cannabis-Extrakten, Cannabis-Blüten oder einzelnen Cannabinoiden, also Mitteln auf Cannabis-Basis. Darunter sind viele Schmerzpatienten. Manche bekommen die Medikamente Dronabinol oder Nabilon verschrieben: Kapseln, die den Cannabis-Wirkstoff THC enthalten. Da die Arzneien in Deutschland nicht zugelassen sind, müssen die Patienten in der Regel selber für die Kosten aufkommen. Das gilt auch für Kranke, die es mit den Blüten versuchen, zum Beispiel, weil sie höhere Dosierungen benötigen.
Schmerzpatient gibt 600 Euro im Monat für Cannabis-Blüten aus
Einzige Ausnahme unter allen Cannabis-Medikamenten ist das Mundspray Sativex, das Symptome bei multipler Sklerose lindert. Die Kassen zahlen dafür, aber das hilft Deml nicht weiter. Der Augsburger muss für die Blüten bis zu 600 Euro im Monat hinlegen, es führt ihn an seine Grenzen. Er war viele Jahre bei Weltbild beschäftigt, ehe der Verlag insolvent wurde und es zu einer Entlassungswelle kam, die auch ihn erwischte. Bald möchte er sich umschulen lassen, er hat etwas in Aussicht. Er zuckt mit den Schultern. „Meine Feundin arbeitet, derzeit reicht es gerade“, sagt er. „Aber in Zukunft wird es knapp.“
Deml fordert, dass die Krankenkassen seine Therapie bezahlen, er fühlt sich zu Unrecht in eine Ecke gestellt. Wer, wie er, Cannabis aus medizinischen Gründen nehme, werde nicht als krank angesehen, sagt er. Sondern gesellschaftlich als süchtig stigmatisiert und kriminalisiert.
Christoph Rossner, Unternehmer aus Memmingen, sieht das ähnlich. Er ist Schmerzpatient, hat aber keine Ausnahmegenehmigung für Blüten, sondern nimmt Dronabinol-Kapseln, sobald er ein Kribbeln in der Nase verspürt, das sich über Kopf und Nacken in seinen linken Arm ausweitet. Rossner hatte 1988 einen schweren Arbeitsunfall, eine Eisenstange fiel ihm aus zwölf Metern Höhe ins Genick. Seitdem hat er Schmerzschübe, die er mit dem Cannabis-Medikament in den Griff bekommen hat. Einen Arzt zu finden, der in Deutschland Dronabinol verschreibt, sagt Rossner, sei eine entwürdigende Prozedur. „Es gibt viele Patienten, die sich lieber illegal Gras kaufen, als von Arzt zu Arzt zu tingeln, bis sie einen finden, der sie nicht für einen Junkie hält.“
Schwer kranke Menschen, sagt er, würden dadurch massenhaft zu Kriminellen gemacht, das sei doch unfassbar. Rossner tritt als Aktivist zugleich für die grundsätzliche Legalisierung von Cannabis ein. Wenn er darüber spricht, wird er laut. Alkohol rührt er nicht an, er hält es für erheblich schlimmer als Cannabis. „Und wer macht die Gesetze?“, schnaubt er. „Alkoholkranke Politiker.“ Er sagt viele solcher Sätze, die etwas stutzig machen.
Rossner redet schnell und springt dabei von Thema zu Thema: Cannabis-Handel, sagt er, sei im Falle einer Legalisierung ein Milliardenmarkt. Dann geht es um Kriegsveteranen, denen die Pflanze dabei helfen könnte, ihre Traumata zu heilen. Dann wieder sagt Rossner, er kenne eigentlich kaum Konsumenten, die nicht krank seien oder Schmerzen hätten. Auch das macht stutzig. Etwa 40 Prozent der 18- bis 25-Jährigen haben 2011 Cannabis mindestens einmal probiert. Schwer zu glauben, dass die alle krank sein sollen. Rossner hat sich in seine Sache verbissen, man könnte auch sagen: reingesteigert. Grautöne haben bei ihm kaum noch Platz. Vielleicht passiert das, wenn man jahrelang kämpft und immer wieder zurückgeworfen wird.
Verwaltungsgericht erlaubt Cannabis-Anbau
Im Juli hatte das Verwaltungsgericht Köln drei Patienten erstmalig erlaubt, Cannabis zu therapeutischen Zwecken selbst anzubauen, da sie die Kosten für den Erwerb nicht aufbringen konnten. Das spektakuläre Urteil hat unter einigen Patienten Hoffnung entfacht, aber das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, zu der auch die Bundesopiumstelle gehört, hat mittlerweile Berufung eingelegt. Sechs Schwerkranke, die medizinisches Cannabis benötigen, sind als Reaktion darauf in einen Hungerstreik getreten. Auch außerhalb des Verfahrens gab es zuletzt viel Aufregung um das Thema. So fordern renommierte Juristen und Mediziner in einer Petition, dass die Kosten einer Behandlung mit Medikamenten auf Cannabis-Basis bezahlt werden. Zudem solle die Strafverfolgung Betroffener aufhören.
Einer der prominentesten Köpfe der Petition ist Matthias Karst, Leiter der Schmerzambulanz an der Medizinischen Hochschule in Hannover. Cannabis, sagt der Professor, habe ein großes medizinisches Potenzial, es helfe vor allem Menschen mit Nervenschmerzen oder Spastiken. Zwar komme es vor, dass Patienten bereits bei geringer Dosis heftige Nebenwirkungen verspürten und ihr Leid nicht gelindert werde – aber das sei bei anderen Schmerzmitteln auch nicht anders. „Es kommt auf die individuelle Ausstattung mit Rezeptoren an“, sagt Karst. Das heißt: Cannabis ist kein Wundermittel, aber es kann in Einzelfällen besser helfen, als Opiate. Es gibt eine Menge Ärzte und Fachverbände, die wie Karst im Hanf eine wertvolle Ergänzung der Therapiemöglichkeiten sehen, darunter die Deutsche Schmerzliga und der Bundesverband Deutscher Apotheker. Die Kassen sehen es anders. Und manche Fachleute auch.
Zu ihnen gehört Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sagt er, sei Cannabis als Medikament überflüssig. Manchmal helfe es Tumor- und Aids-Patienten im Endstadium. Für alle weiteren Fälle seien andere Arzneien effektiver, besser steuerbar und hätten weniger Nebenwirkungen. Den Hanfverbänden, die mit Hinweis auf medizinische Effekte für eine Legalisierung trommelten, gehe es um den Rausch, nicht um die Therapie.
Regierung lehnt Legalisierung ab
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler von der CSU, lehnt eine grundsätzliche Legalisierung von Cannabis zwar rigoros ab. In Bezug auf die medizinische Verwendung hat sie aber Verständnis für schwer kranke Menschen. „Es ist mir ein wichtiges Anliegen, ihnen den Zugang zu Cannabis-haltigen Fertigarzneimitteln zu ermöglichen“, sagt Mortler. Wie das zu erreichen ist, solange die Kassen sich querstellen, sagt sie allerdings nicht. Eigenanbau hält sie für kein probates Mittel. Die Qualität des Medikamentes sei dabei nicht gewährleistet. „Außerdem ist es sehr aufwendig, zu kontrollieren, ob die Betroffenen nur für sich selbst anbauen.“
Oliver Deml hatte überlegt, ob er klagen sollte wie die Patienten in Köln. Und dann den Rechtsstreit gescheut. Er hofft, dass die Krankenkassen seine Therapiekosten irgendwann mal übernehmen. Wenn es so weit ist, wird er feiern. Nur halt nicht mit Alkohol. Davon, sagt er, bekomme er Magenprobleme.