„Gipfelstürmer“ heißt die neue Station. Ein schönes Bild sei das, findet Professor Michael Frühwald. Schließlich gehe es um Kinder, die sich vorkommen, „als würden sie immer irgendwo raufsteigen und wieder runterstürzen“, sagt der Chefarzt der I. Klinik für Kinder und Jugendliche am Augsburger Klinikum. Die Kinder hätten wohl mal Erfolge, aber dann fange ihr Problem doch wieder von vorne an. Ihr Problem, das „chronischer Schmerz“ heißt. Diese Kinder wolle man sozusagen im Zuge einer langen gemeinsamen Wanderung auf einen Gipfel führen, der Schmerzfreiheit bedeute. Man wolle sie an ein Ziel bringen, an dem der Schmerz endlich besiegt sei.
Chronische Schmerzen bei Kindern, das ist ein Thema, das oft vernachlässigt wird. Die Versorgung schmerzkranker Kinder hierzulande sei desolat, heißt es. Dabei leiden den Angaben zufolge zwischen 200.000 und 350.000 Kinder und Jugendliche an chronischem Schmerz. Als vor drei Jahren das Deutsche Kinderschmerzzentrum in Datteln eröffnet wurde, beklagte dessen Leiter Professor Boris Zernikov im Interview mit unserer Zeitung eine „Unsicherheit und Unwissenheit“, was die Behandlung chronisch schmerzkranker Kinder betrifft. Kinder, bei denen kein einfaches organisches Problem gefunden werde, würden oft nicht ernst genommen. In der Folge drohe ein „Schmerz-Kreislauf“, aus dem sie nicht leicht wieder herauskommen könnten.
Bayerisches Schmerzentrum für Kinder in Augsburg
Der Bedarf an guter Versorgung ist also da, und so soll es jetzt in Augsburg ein Bayerisches Schmerzentrum für diese Kinder geben: mit einer multimodalen Therapie, die nicht nur biologische Faktoren im Blick hat, sondern auch die Psyche und das soziale Umfeld mit einbezieht. Ein großes Team, zu dem Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen, geschultes Pflegepersonal und als Leiterin mit Rosemarie Ahnert eine Kinderärztin mit der Zusatzbezeichnung „spezielle Schmerztherapie“ gehören, soll den jungen Patienten auf der Station Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Die Kinder sollen nicht nur verstehen, was in ihrem Körper passiert, sondern unter anderem auch Entspannungstechniken lernen. Das Konzept der Station sei eng angelehnt an jenes des Dattelner Zentrums, das das vielleicht erfolgreichste derartige Zentrum in ganz Europa sei, wie Frühwald sagt.
Worunter leiden chronisch schmerzkranke Kinder und Jugendliche am häufigsten? An Bauch- und Kopfschmerzen, „das hängt ein bisschen vom Alter ab“, erläutert Frühwald. Nahezu jedes Kind klage einmal über Bauchschmerzen, über ein Unwohlsein, das auf die Mitte des Körpers projiziert werde, obwohl da kein organischer Grund vorhanden sei. In Wahrheit leide das Kind an seiner momentanen Situation. Und die spiele bei Kindern – Stichwort Mobbing in der Schule, familiäre Probleme, sozialer Rückzug – womöglich eine noch größere Rolle als bei erwachsenen Schmerzpatienten, so der Chefarzt. Leide ein Kind nach Beseitigung einer organischen Ursache weiter an Schmerzen, so könne man die nicht einfach mit Medikamenten behandeln – vielmehr müsse man mit dem betroffenen Kind konsequent psychologisch und schmerztherapeutisch arbeiten.
Vorgesehen ist dafür auf der Station, die einmal zehn Betten umfassen soll, ein Aufenthalt über drei Wochen. Man glaube, dass eine längere stationäre Aufnahme nicht viel Sinn mache, erklärt der Chefarzt. Es solle durch die Therapie ja auch nicht zu langen Fehlzeiten in der Schule kommen. Die Eltern der Kinder würden zwar nicht mit auf die Station aufgenommen, aber in die Therapie einbezogen, heißt es – speziell dann, wenn Themen auftauchten, bei denen sie gebraucht würden.
Mitte November soll Kinderschmerzzentrum in Betrieb gehen
Demnächst, Mitte November, soll das Bayerische Kinderschmerzzentrum mit zunächst vier Betten in Betrieb gehen und später erweitert werden. Frühwald rechnet auf lange Sicht damit, dass pro Jahr 120 bis 150 junge Patienten auf der Station behandelt werden.Weit mehr allerdings – drei- oder viermal so viele – würden ambulant voruntersucht, um eine Auswahl zu treffen. Denn nicht jedes schmerzkranke Kind sei ein geeigneter Kandidat für die neue Station. Es müsse unter anderem eine ausreichend große Motivation, sich an der Therapie zu beteiligen, vorhanden sein.
Bis es losgeht, wird die Station mithilfe von Spendengeldern in einen „wohnlichen Zustand“ versetzt. Mit Gemeinschaftsraum, WLAN und der Möglichkeit zum gemeinsamen Kochen soll die Station auf die Bedürfnisse junger Menschen zugeschnitten sein. Auch eine Warteliste gibt es Frühwald zufolge schon. In dem Schmerzzentrum nach Dattelner Vorbild, das neben Stuttgart das zweite im süddeutschen Raum und das erste in Bayern sein wird, ist auch eine wissenschaftliche Begleitung der Behandlung vorgesehen.
„20 Prozent aller Kinder im Vorschulalter wissen, was Schmerzen sind“, berichtet Frühwald. Am Ende der Grundschule seien es 50 Prozent, und 70 Prozent aller Jugendlichen zwischen zwölf und 15 Jahren hätten regelmäßig Schmerzen. Das sei bedenklich. Doch während Kinderärzte früher glaubten, Schmerzbehandlung „nebenher“ machen zu können, sei das Bewusstsein, dass man professionell vorgehen müsse, heute da.