Joseph Wilhelm ist auf der Suche nach ein wenig Ruhe und einem Kaffee. Er hat nicht viel geschlafen, Messetage können lang sein. Wilhelm lässt sich in einen grünen Sessel fallen, bekommt seinen Cappuccino und beginnt zu erzählen. Von den Anfangsjahren, als er mit seiner Freundin Jennifer Vermeulen in einem Laden in der Augsburger Innenstadt Obst, Gemüse und Holzofenbrot verkauft hat. 28 Quadratmeter in der Katharinengasse, ein kleiner, alternativer Lebensentwurf zwischen Königsplatz und Maximilianstraße.
44 Jahre ist das jetzt her, so alt ist auch sein Unternehmen Rapunzel. Wilhelm war damals 20, trug wilde Locken und Bart. Im Januar hat er seinen 64. Geburtstag gefeiert. Hingabe und Leidenschaft, sagt er, sind aber über die vier Jahrzehnte nicht geringer geworden. Die meisten hätten das junge Pärchen in den Anfangszeiten nur belächelt, erzählt Wilhelm. „Wir waren doch die Müslis“, sagt er und lacht selbst. „Die mit den Wollpullovern und den Birkenstock-Sandalen.“
Rapunzel hat heute über 500 Produkte im Angebot
Heute trägt Wilhelm Anzug, zumindest für seinen Besuch auf der Biofach, der wichtigsten Naturkostmesse der Welt, die aktuell in Nürnberg stattfindet. Bio-Waren verkauft er noch immer, allerdings in deutlich größerem Stil. Aus dem Augsburger Öko-Pionier ist längst ein Unternehmer geworden, eine feste Größe in der europäischen Bio-Branche. Über 500 Produkte hat Rapunzel heute im Angebot: Olivenöl und Schoko-Aufstrich genauso wie Kräutersalz oder Cashewnüsse. 350 Menschen arbeiten für die Firma, die ihren Hauptsitz in Legau im Unterallgäu hat. Ein klassischer deutscher Mittelständler, wenn auch ein eher ungewöhnlicher.
Es gibt so einige Unternehmer vom Schlag Wilhelms in der Bio-Branche – Menschen, die sich schon vor Jahrzehnten für einen Lebensstil eingesetzt haben, der in der Mitte der Gesellschaft erst in den vergangenen Jahren so richtig angekommen ist. „Wir haben das damals einfach aus Leidenschaft gemacht“, sagt Wilhelm. „Wir wollten gesünder leben und unsere Lebensweise mit anderen Menschen teilen.“
So wie die Unternehmen der Bio-Pioniere ist in den vergangenen Jahren auch die Naturkost-Branche gewaltig gewachsen. Dieses Jahr knackten die deutschen Bio-Produzenten erstmals die Umsatzmarke von zehn Milliarden Euro. Mehr als jeder zehnte Betrieb ist mittlerweile ein Öko-Hof, jeder zweite Deutsche sagt heute in Umfragen, er greife regelmäßig zu Bio-Produkten.
Sandra Peralta verkauft Bio-Babynahrung
Wie groß die Branche geworden ist, sieht man auch auf der Biofach. Etwa 3200 Aussteller präsentieren sich dort in diesem Jahr, Fernsehteams drehen ihre Beiträge, Blogger ziehen über die Messe. Die Stände erstrecken sich über fast 53.000 Quadratmeter – also über eine Fläche, die fast 2000 Mal so groß ist wie der ursprüngliche Laden von Joseph Wilhelm in Augsburg.
Sandra Peralta gehört zu der neuen Generation von Bio-Unternehmern. Sie lebt in München, seit 15 Jahren führt sie dort eine Catering-Firma. Jetzt stellt sie frische Bio-Babynahrung her. In diesem Jahr ist sie zum ersten Mal als Ausstellerin auf der Biofach. Die 40-Jährige hat lange blonde Haare, trägt eine auffällige Hornbrille. An ihrem Stand wirbt sie mit ausdauernder Freundlichkeit für ihr Produkt, erzählt Lieferanten und Händlern immer wieder aufs Neue die Entstehungsgeschichte ihrer noch jungen Firma. „Bei meinem Sohn habe ich noch zum Gläschen gegriffen“, sagt die zweifache Mutter. Für ihre Tochter kochte sie dann frischen Brei – und wollte nicht mehr zurück zu den Gläschen. Anders als die traditionelle, in der Regel konservierte Babynahrung macht Peralta ihren Babybrei durch Druck haltbar. So würden die Nährstoffe erhalten bleiben, sagt sie.
Rapunzel-Chef: Uns wird es nie beim Discounter geben
Die Unternehmerin hat Betriebswirtschaftslehre studiert. Dass ihre Produkte Bio-Qualität haben sollen, war für sie von Anfang an klar. Weil sie sich selbst bewusst ernährt, sich schon immer bewusst ernährt hat. Aber auch, weil sie weiß, dass junge Eltern das heute erwarten. „Was anderes brauche ich da gar nicht anbieten“, sagt Peralta. Bio, das ist längst ein gutes Verkaufsargument.
Joseph Wilhelm wird in letzter Zeit oft gefragt, ob ihn das nicht stört: Dass mittlerweile so viele Akteure in der Branche mitmischen. Dass es Bio-Produkte heute auch beim Discounter gibt. Dass Öko-Betriebe auch mal mehrere zehntausend Tiere halten. Wilhelm hat darauf eine klare Antwort: Rapunzel, sagt er, wird es zwar niemals beim Discounter geben. Aber er kann nichts Schlechtes daran finden, wenn sich Bio-Produkte immer weiter verbreiten. Im Gegenteil: Biologische Lebensmittel seien keine Waren für eine Elite. „Sie stehen jedem Menschen zu“, betont Wilhelm. Für ihn ist es nur positiv, wenn mehr biologische Lebensmittel produziert werden. „Je mehr bio verkauft wird, desto besser ist das doch.“
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