Es ist ein außergewöhnlicher Flecken Erde, den sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft für ihre WM-Expedition ausgesucht hat. Vom Flughafen in Porto Seguro, der 150 000-Einwohner-Stadt im Bundesstaat Bahia, führt die Straße entlang der „Küste der Entdeckung“ durch üppige Vegetation und einen endlosen Sandstrand.
Hier, in einem der zahlreichen Appartement-Dörfer, haben sich Ottmar Hitzfelds Schweizer niedergelassen. Sie waren schneller gewesen als Oliver Bierhoff, der deutsche Team-Manager, weshalb die Deutschen woanders suchen mussten. Ein paar Abschläge von den Schweizern entfernt haben sich deutsche Journalisten einquartiert. Am Anreisetag bewachte ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Polizisten die Zufahrt. Inzwischen ist nichts mehr von ihnen zu sehen. Es sei sicher hier, heißt es. Wer sich zum ersten Mal auf den Weg in Richtung Quartier der deutschen Mannschaft macht, benötigt gute Nerven und ein Auto mit möglichst hohem Achsstand. Abzuraten ist von tiefer gelegten Mietwagen oder Kleinwagen, die mit mehr als vier Personen belegt sind. Die Brasilianer haben ihre Straßen mit Betonbuckeln entschleunigt, die selbst bei angemessener Geschwindigkeit jedem Unterboden den Garaus machen. Es rumpelt, knirscht und kracht, während sich das Auge an Palmen und Meer erfreut.
Morbider Karibik-Charme
Bis plötzlich Schluss ist. Santo André, das kleine Dorf, das die deutsche Mannschaft beherbergt, liegt auf einer Halbinsel. Die Mündung des Rio João de Tiba trennt die Bucht der Kleinstadt Santa Cruz Cabrália von Santo André. Wer übersetzen will, muss auf eine von zwei schmächtigen Autofähren, die ihre beste Zeit hinter sich haben. Es geht vorbei an Mangroven und Booten, die noch älter aussehen als die beiden Eisenflöße.
Auf der Insel empfängt den Besucher der morbide Charme der Karibik. Eine Staubstraße führt durch das 800-Seelen-Dorf, die bei den täglichen Regengüssen in der schwül-warmen Region zur Schlammpiste wird. Die Häuser, bunt zwar, aber provisorisch. Das Leben spielt sich auf Plastikstühlen vor unverputzten Backsteinmauern ab. Es sieht eher nach Dritter als nach Erster Welt aus.
Hier also soll das edle Flaggschiff des deutschen Fußballs, die Nationalelf aus dem Land des dreimaligen Weltmeisters, vor Anker gegangen sein. Wer es nicht weiß, glaubt es nicht. Augenfällige Anzeichen dafür gibt es kaum – abgesehen von den Laternenpfählen, die in Schwarz-Rot-Gelb oder brasilianischem Gelb-Grün gestrichen sind. Darüber hinaus lässt wenig erkennen, was auf die WM hinweist. Tatsächlich aber ist mitten im Dorf, auf 15 000 Quadratmetern, eine Ferienanlage entstanden, die für die deutsche Fußball-Expedition möglichst vier Wochen lang Basisquartier sein soll. 2008 hatte Christian Hirmer aus dem gleichnamigen Münchner Modeunternehmen das Grundstück gekauft. Die Schlüsselübergabe an die Gesandten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) erfolgte auf den letzten Drücker.
Jetzt sind Lahm & Co. in die 14 Villen mit den 65 Suiten eingezogen. „Es gibt noch kleinere Problemchen“, räumt Oliver Bierhoff ein. Nicht überall läuft das Wasser, nicht alle Steckdosen funktionieren und einige Möbelstücke fehlen auch noch. Umso wunderbarer sei das ganze Campo. „Wie in einer großen WG“, schwärmt der Manager von den ersten Tagen. Die Truppe sei räumlich zusammengerückt, und wenn Bierhoffs WG-Genosse Hansi Flick nebenan die Musik zu laut aufdrehe, brauche er nur mal nebenan gegen die Tür zu klopfen.
Der Geist von Santo André?
Von dieser Wohngemeinschaft aus fliegen die Deutschen zu den Gruppenspielen nach Salvador, Recife und Fortaleza. Bei allem, was man über das hermetisch abgeriegelte „Campo Bahia“ gehört hat, scheint es sich dort ordentlich leben zu lassen. Ob es am Ende allerdings einen hervorgehobenen Platz in der großen Galerie deutscher WM-Unterkünfte einnimmt, hängt nicht von den Zimmertapeten ab.
Entscheidend ist, ob in den Gemäuern jener Geist mit einzieht, der es den Deutschen überhaupt erst möglich machen dürfte, den Titel zu gewinnen. Wie damals in Spiez, wo 1954 das „Wunder von Bern“ entstand, oder 20 Jahre später in Malente, wo Beckenbauer & Co. den zweiten WM-Triumph feierten. Einen Geist von Santo André also gilt es zu schaffen, wenn es mit dem WM-Sieg etwas werden soll. Oliver Bierhoff, der sich ein Haus mit den Trainern Löw, Flick und Köpke teilt, spürt ihn schon jetzt. Bierhoff: „Hier war vom ersten Moment an eine besondere Atmosphäre.“ Deutsche Mannschaftsgeister schätzen die Abgeschiedenheit. Mag Santo André glänzender klingen als Spiez und Malente, an Weltferne ist es kaum zu überbieten. Das wird sich in den nächsten Wochen ändern, wenn jeden Vormittag 150 Journalisten zum Training und zu den Pressekonferenzen der Mannschaft auf die Insel strömen. Nicht einmal die beiden alten Fähren dürften einen solchen Anlauf je erlebt haben.