Es hätte sich vor dem Abflug der deutschen Mannschaft zum zweiten Gruppenspiel nach Fortaleza angeboten, Jérôme Boateng vor die Journalisten zu setzen. Neben Per Mertesacker, der am heutigen Samstag gegen Ghana (21 Uhr/ARD) sein 100. Länderspiel absolviert. Boateng hätte sich für den Platz aufgedrängt, schließlich steht ein weiteres Bruderduell bevor. Jérôme, der Innenverteidiger im Trikot der deutschen Elf, gegen Kevin-Prince, der sich vor Jahren für Ghana entschieden hat.
Die Führung der deutschen WM-Expedition beorderte aber nicht Jérôme, sondern Roman Weidenfeller aufs Podium, den Ersatztorhüter. Dahinter steckte die Absicht, die Konzentration auf das Spiel gegen die Afrikaner nicht durch Nebengeräusche zu stören. Dazu passt, dass Per Mertesacker erst einmal daran erinnert werden musste, welche Brisanz in den bisherigen Länderspiel-Begegnungen der beiden Boatengs steckte. „Ich hätte von mir aus nicht mehr daran gedacht,“ erklärte der 29-Jährige zur Situation vor vier Jahren.
Prince war derjenige, der Ballack foulte
Damals, als Kevin-Prince noch für den FC Portsmouth spielte und er der deutschen Elf mit einem üblen Foul im englischen Pokalfinale gegen Chelsea kurz vor der WM den Kapitän genommen hatte. Für Michael Ballack war die WM gestrichen. Es war das Ende seiner Karriere in der Nationalelf. Kevin-Prince Boateng dagegen spielte, trotz der 0:1-Niederlage im dritten Gruppenspiel gegen Deutschland, ein starkes Turnier. „Das alles“, sagt Mertesacker, „bleibt für uns außen vor.“
Dazu gehört auch, dass Ghanas Boateng die Begegnung schon vor Wochen mit martialischer Rhetorik angeheizt hatte. Kevin-Prince: „Es stehen Leute um das Spielfeld und wollen sehen, wie sich zwei Mannschaften bekriegen.“ Ghana werde „bis aufs Blut gegen Deutschland kämpfen“.
Jérôme würde Derartiges nie sagen. Der 25-Jährige ist das Gegenteil seines Halbbruders. Im Leben und auf dem Spielfeld. Ein Verteidiger, einer der besten des Landes. Führungsspieler ist er dennoch nicht, weder beim FC Bayern noch in der Nationalelf. Müsste man für Jérôme ein Gegenstück entwerfen, es wäre ein Kerl wie Kevin-Prince. Eigenwillig, offensiv, selbstbewusst – ein Anführer.
Der älteste Boateng-Bruder George landete im Gefängnis
Die Weichen im Leben der beiden standen häufig auf Trennung. Ihr Vater war in den achtziger Jahren aus Ghana nach Berlin gekommen. Der erste Sohn George war nicht weniger talentiert als seine jüngeren Brüder. Doch seine Karriere endete im Knast. Inzwischen hat sich George gefangen, arbeitet als Musiker, kümmert sich um seine Hundezucht und unterstützt Stiftungen der Familie, die sich gegen Rassismus engagiert.
Nach Kevins Geburt hatte der Vater eine andere Frau gefunden. Der Jüngste, Jérôme, wuchs mit seiner Mutter im bürgerlichen Wilmersdorf auf, die anderen im Arbeiterkiez Wedding.
Der Fußball führt die drei Jungs zusammen. Genau genommen war es einer jener tristen Gitterkäfige, in denen Jugendgangs ihre Zeit verbringen. Sportlich liefen Jérôme und Kevin-Prince fast im Gleichschritt. Jugendnationalelf, Bundesliga. Gemeinsam spielten sie für Hertha, gemeinsam landeten sie in England. Kevin-Prince bei Tottenham und Portsmouth, Jérôme bei Manchester City. Kevin-Prince entschied sich später für die Nationalelf Ghanas.
Kevin-Prince wird Symbolfigur gegen Rassismus in Italien
Beim AC Mailand wurde er zur Symbolfigur gegen Rassendiskriminierung, nachdem er in einem Spiel Schmährufern die Stirn bot. Er unterbrach die Partie und verließ, gefolgt von seinen Mitspielern, den Platz. Die Welt war beeindruckt. Die Uno bat um eine Rede, und so sprach der ehemalige Kiez-Kicker in Anzug und Krawatte vor den Vereinten Nationen.
Seit einem Jahr spielt er für Schalke. Auch dort ist er Anführer. Bei Ghanas 1:2-Niederlage im ersten Gruppenspiel gegen die USA war ihm die Alpha-Rolle allerdings zunächst genommen. Der 27-Jährige saß eine Stunde lang nur auf der Bank, ehe ihn Trainer James Appiah einwechselte. Bitter für ihn, der vor der WM über die deutsche Elf gesagt hat, er vermisse „Typen und Charaktere, die eine Mannschaft mitreißen können.“ Antreiben – das kann er. Ob nun die eigene Mannschaft, oder die des Gegners.