Direkt über seinem Bett hat sich Simon, 20, einen weißen Fanschal mit dem Aufdruck „Kämpfen Simon“ anbringen lassen. Rechts daneben hängt ein T-Shirt seiner Ultra-Freunde mit dem gleichen Aufdruck. Dann kommen die Trikots der FCA-Spieler Daniel Baier und Martin Hinteregger. Im ganzen Zimmer sind FCA-Fanartikel verteilt.
So hat es auch in seinem Jugendzimmer in der Königsbrunner Wohnung ausgesehen, in der Simon mit seiner Mutter Marion und seinem großen Bruder wohnte. Nur dass das er kein Spezialbett benötigte und dass Simon keinen elektrisch betriebenen Rollstuhl brauchte, um sich bewegen zu können. Seit Januar lebt Simon in einer Siebener-Wohngruppe im Fritz-Felsenstein-Haus in Königsbrunn für Körper- und Mehrfachbehinderte. „Für uns ist das die ideale Lösung“, sagt Mutter Marion Schönle, 51. Schon bis zu jenen verhängnisvollen Sekunden in der Nacht vom 23. auf 24. September 2015 bestimmte der FCA jede freie Minute im Leben von Simon. Seitdem ist nichts mehr, wie es war.
Bei der Heimfahrt vom Auswärtsspiel in Gladbach verunglücken Simon und seine vier Freunde gegen 1.50 Uhr auf der A61 zwischen Speyer und Ludwigshafen schwer. Das Auto der fünf fährt fast ungebremst von hinten auf einen Sattelzug auf.
Der Fahrer und der Insasse, der auf dem Rücksitz direkt hinter ihm sitzt, sterben. Zwei kommen mit leichteren Verletzungen davon. Simon überlebt mit schweren Gehirnverletzungen, entgeht nur knapp dem Tod. Die Ärzte machen seiner Mutter keine großen Hoffnungen, sagen, Simon wird wohl ein Schwerstpflegefall bleiben. Wie bei einer Computer-Festplatte wurden die Daten in seinem Gehirn gelöscht. Sie sind noch vorhanden, können aber nicht genutzt werden.
Knapp zwei Jahre später hat Simon die Skeptiker Lügen gestraft. Zwar ist er im Alltag auf Hilfestellung und Pflege angewiesen. Doch er hat schon viel mehr wieder gelernt, als ihm einige Ärzte zugetraut haben. Er trinkt und isst zum Beispiel selbstständig.
Gegen Gladbach wird Simon im Stadion sein
Simon hat es sich in seinem Bett bequem gemacht. Der Vormittag in der Förderstätte war anstrengend. Dort übt er einfache Handgriffe, versucht so viel wie möglich an Körperbeherrschung zurückzugewinnen. An der Sprossenwand kann er schon alleine wieder aus seinem Rollstuhl aufstehen.
Allerdings funktioniert sein Kurzzeitgedächtnis immer noch nicht richtig. Simon braucht viele Wiederholungen, um sich Dinge und Bewegungsabläufe merken zu können. Was vor seinem Unfall gespeichert war, kann er abrufen, so zählt er ohne Probleme auf Englisch von 0 bis 30. Darum kennt er zwar jeden Spieler, der vor seinem Unfall beim FCA gespielt hat, aber mit den aktuellen Spielern hat er Probleme.
Fragen versteht er sofort und er antwortet auch darauf. Je nach Tagesform, wenn er nicht müde ist, spricht und formuliert er schon gut längere Sätze, die auch Außenstehende verstehen. Man muss ihn nur manchmal darauf hinweisen, die einzelnen Worte langsam und deutlich zu sprechen. Wie er es denn finde, dass der FCA die Klasse gehalten hat. Simon hebt seinen Daumen nach oben und sagt „geil“.
Der FCA und die Ultraszene spielen gerade jetzt in seiner Reha eine ganz wichtige Rolle. Sie sind die Antriebsfeder, die Simon weiter an sich arbeiten lassen. Ende vergangener Saison besuchte Simon drei Heimspiele. Wenn alles normal verläuft, wird Simon auch am Samstag (15.30 Uhr) bei der Heimspielpremiere in dieser Saison gegen Borussia Mönchengladbach im Stadion sein. (Lesen Sie zum Spiel gegen Gladbach auch: Fans dürfen noch einmal bar zahlen)
Wie schon in der vergangenen Saison, als er vier Mal seinen FCA live sehen konnte, wird es wieder ein großes Hallo geben. Vor dem Spiel fährt er mit seinem E-Rollstuhl ins Mundloch, dem Eingang zum M-Block, trinkt dort mit seinen Freunden ein Bier, macht Späße. Es ist dann fast wie früher. Simon war keiner, der in der Ultraszene eine tragende Rolle spielte. Weder positiv und schon gar nicht im negativen Sinne. Er war einer, der viel bei den Choreografien mithalf, einer, der in der Szene einfach integriert war. Kurz vor Spielbeginn fährt Simon dann zu den speziell ausgewiesenen Plätzen der Rollstuhlfahrer auf der Gegengeraden.
„Diese Besuche sind wie eine große Motivationsspritze für ihn“, ist Marion Schönle weiter begeistert von der Unterstützung aus der Fan-Szene. Eine Gruppe von bis zu 60 Mitgliedern der verschiedenen Fanklubs aus der Ultraszene hat sich gebildet, die Simon regelmäßig im Fritz-Felsenstein-Haus trifft. Einige kommen fast täglich.
Moralische Unterstützung bekommt Simon aber auch weiter von anderen Ultraszenen aus der Bundesliga über die sozialen Kanäle. Es hängen auch Bilder mit „Simon-kämpfen-Plakaten“ an der Wand.
Die Ultras unterstützen Simon
Man muss sich nicht mögen, doch das Schicksal von Simon verbindet. Es scheint, als sei er ein vereinsübergreifendes Symbol für den Zusammenhalt innerhalb der Ultraszene geworden. Einer für alle, alle für einen. Es sind diese Werte, die im Geschäft Bundesliga immer mehr verloren gehen.
Das Beispiel Simon zeigt: Ultramitglieder sind nicht nur auf Krawall, Pyrotechnik und Protest aus. Sie engagieren sich auch für soziale Belange. Manche Betrachter fühlen sich an die Geschichte des Dr. Jekyll & Mr. Hyde erinnert. Eines verdeutlich aber die Geschichte von Simon: Die Ultraszene ist heterogen wie andere gesellschaftliche Gruppierungen auch.
Die FCA-Fans organisieren sich in einer Whatsapp-Gruppe. Sie wechseln sich mit Simons Königsbrunner Freunden ab. Wer Zeit hat, beschäftigt sich mit Simon. Sie holen ihn aus seinem Behinderten-Alltag, gehen mit ihm zum Döner-Essen, schieben ihn schon mal mit dem Rollstuhl an heißen Tagen in den Baggersee.
Sie tun Dinge mit ihm, die man als 20-Jähriger einfach macht. Oder vielleicht doch nicht. Am Muttertag ging einer der FCA-Ultras mit Simon zum Friseur und danach ins Fotostudio. Das Bild mit der neuen Frisur schenkte Simon dann seiner Mutter.
Marion Schönle ist dankbar für jede Unterstützung von Simon. Da macht es auch nichts, wenn ein Freund schon länger mal nicht da war. „Vielleicht haben manche da ein schlechtes Gewissen. Aber das ist Quatsch“, sagt Schönle. „Simon hat keinerlei Zeitgefühl und er freut sich wie ein Schnitzel und strahlt über beide Ohren, wenn ihn jemand auch nur eine Stunde am Tag besucht aus seiner Clique.“
Jede Story, die seine Freunde ihm erzählen, jeder neue Eindruck, den er außerhalb seiner Wohngruppe aufnimmt, ist gut für sein Gehirn und seine Lebensfreude. Simon baucht das Gefühl dazuzugehören, braucht es, um nicht aufzugeben auf seinem langen Weg zurück in die Normalität.
Es sind eigentlich nur kleine Schritte, die Simon gehen muss. Doch die sind nur unter großen Anstrengungen möglich. Fast so wie sein FCA: Der hat als Saisonziel den Klassenerhalt ausgegeben. Simon will in dieser Spielzeit wieder selbstständig direkt im M-Block stehen.
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