Sie haben stets betont, man müsse Welt- und Europameister Spanien spielerisch bezwingen. Hat Sie der Champions-League-Triumph von Chelsea mit den Siegen gegen Barcelona und Bayern umgestimmt?
Löw: "Nein. Von zehn Spielen gewinnt Barcelona acht gegen Chelsea. Es gibt aber immer Unwägbarkeiten, das hat man auch im Finale mit dem vergebenen Elfmeter der Bayern in der Verlängerung gesehen. Spanien muss mit spielerischen Möglichkeiten, mit Druck, mit Ballbesitz und mit schnellem Spiel vor Probleme gestellt werden. Wenn man das nicht kann, und wenn die Spanier nicht völlig desolat spielen oder schlecht mit ihren Chancen umgehen, wird man gegen sie auch nicht gewinnen."
Ist das nur ein Matchplan gegen Spanien oder für das gesamte Turnier?
Löw: "Wir haben keinen Spanien-Plan, der existiert nicht. Das wäre nicht in Ordnung. Wir müssen erst einmal andere Aufgaben bewältigen. Bei uns gibt es natürlich einen Spielplan. Er beinhaltet, unsere Spielweise zu verfestigen, sie durchzubringen, die Spielfreude und Risikobereitschaft beizubehalten, auch wenn die Brisanz hoch ist. Darum gibt es einen Spielplan Richtung Portugal, Richtung Holland und Richtung Dänemark. Dann sieht man weiter. Aber unsere Spielweise wird sich nicht gravierend verändern, egal wie weit wir kommen."
Niederlande, Portugal, Dänemark - kann man diese Rangfolge in der Schwierigkeit der Gruppengegner aufstellen?
Löw: "Ich möchte keine Rangfolge aufstellen. Wir müssen in jedem der drei Spiele unsere Höchstleistung bringen, wenn wir bestehen wollen. Portugal und die Niederlande sind fußballerisch und von ihrer Offensivkraft auf einem hohen Niveau. Dänemark spielt natürlich anders, ist aber auch immer ein unangenehmer Gegner. Da gibt es nur Nuancen, die unsere Gegner unterscheiden."
Ist es die halbe Miete, wenn man Cristiano Ronaldo bei Portugal ausschalten kann?
Löw: "Das glaube ich nicht. Nicht nur Ronaldo ist sehr gefährlich und schnell, sondern auch andere Spieler wie Nani. Extrem stark ist die Abwehr um Pepe, vor allem die Innenverteidiger sind körperlich stark." Oranje und Dänen stark - Portugal patzt gegen Türkei
Wie sehr haben sich Mesut Özil und Sami Khedira in den zwei Jahren bei Real Madrid weiterentwickelt?
Löw: "Sie sind sehr gewachsen. Sie haben extrem von der WM 2010 profitiert und der Zeit in Madrid. Sie haben jetzt die spanische Meisterschaft gewonnen, das ist ein Titel mit großer Reputation. Sie spielen bei einem der größten Vereine der Welt. Sie müssen tagtäglich um ihren Platz bei Real kämpfen und haben sich durchgesetzt. Sie haben in ihrer körperlichen und psychischen Robustheit noch einmal zugelegt. Sie machen von ihrer Reife her einen sehr guten Eindruck. Das Auslandsengagement hat bei ihnen schon etwas bewirkt."
Hat Özil das Zeug zum Star dieser EM?
Löw: "Mesut Özil ist - unabhängig von dieser EM - einer der besten Fußballer überhaupt. Klar, muss man das immer wieder unter Beweis stellen bei den ganz großen Turnieren. Aber wer bei Real Madrid so eine gute Rolle spielt, so viele Tore vorbereitet und so eine fußballerische Akzeptanz besitzt, gehört automatisch zu den Besten, die es weltweit gibt."
Ist Mario Götze in der Nationalmannschaft noch ein Azubi?
Löw: "Mario ist ähnlich veranlagt wie Mesut Özil. Spielintelligenz und Technik sind bei ihm in ganz jungen Jahren ausgereift. Mario hat bei uns und in Dortmund noch nicht so viele internationale Spiele absolviert. Von daher muss man sehen, ob er nochmal einen Sprung machen kann bei dieser EM. Zuzutrauen ist Mario sehr viel in den nächsten Jahren. Er kann einer der ganz großen Fußballer werden. Mario bringt enorm viel mit, um ein Weltklassespieler zu sein."
Özil und Khedira wechselten nach der WM 2010 zu Real Madrid, Per Mertesacker in dieser Saison zu Arsenal. Dahin folgt nun Podolski. Glauben Sie, dass es bis zur WM 2014 in Brasilien noch mehr deutsche Nationalspieler im Ausland geben wird?
Löw: "Grundsätzlich freut es mich, dass unsere Spieler seit 2010 international wieder stark gefragt sind, dass um solche Spieler wieder gekämpft wird von den Topvereinen. Das ist auch ein Zeichen, dass wir in Deutschland auf einem guten Weg sind. Wichtig ist, dass die Spieler zum richtigen Zeitpunkt ins Ausland gehen. Für Özil und Khedira war es ein guter Zeitpunkt. Ich glaube, dass ist es jetzt auch für Podolski."
Ist er jetzt reif dafür?
Löw: "Mit 100 Länderspielen zu Arsenal zu gehen und sich dort nochmals weiterzuentwickeln, ist positiv. Andererseits verliert die Bundesliga einige Persönlichkeiten, die auch die Zuschauer anlocken, die für die Liga und die Fans wichtig sind. Aber ich sehe es auch als Chance für junge Spieler. Da können sich Talente wie Götze und andere Spieler profilieren."
Ist Manuel Neuer bei Bayern München ein besserer Torwart geworden?
Löw: "Sehr gut war er bei Schalke auch schon. Bei Bayern gibt es nicht mehr so viele Torchancen, wo er eingreifen kann. Das ist für ihn eine Umstellung, die ihm jedoch gelungen ist. Er hat in vielen Spielen seine Klasse bewiesen. Ich sehe bei ihm mehr Selbstbewusstsein, das Bayern-Gen. Besonders in den Elfmeterschießen im DFB-Pokal-Halbfinale sowie im Halbfinale und im Endspiel der Champions League hat er seine Nervenstärke bewiesen."
Hat es Sie beeindruckt, dass er gegen Chelsea sogar selbst zum Elfmeter angetreten ist?
Löw: "Ja, das hat mich stark beeindruckt. Dass ein Torwart mitten im Elfmeterschießen hingeht und einen Elfmeter schießt, habe ich auch noch nicht so häufig erlebt. Wenn mal fünf geschossen sind, beim sechsten, siebten oder achten, okay. Aber dass ein Torwart mitten im Elfmeterschießen diesen Mut besitzt, das ist außergewöhnlich."
Ist ein Elfmeterschütze Neuer damit auch eine EM-Option für Sie?
Löw: "Es ist eine Option, selbstverständlich. Aber grundsätzlich, wenn alles normal läuft, würde ich fünf andere Schützen auswählen."