Bergsteiger kennen das Phänomen. Über Stunden, Tage oder auch Monate müht man sich dem Haupt eines Massivs entgegen. Anfangs rückt der Gipfel schnell näher, die Plackerei erscheint noch nicht als solche, Flora und Fauna lassen Schweiß vergessen. Irgendwann aber werden die Schritte schwerer, der Gipfel verharrt scheinbar in der immer gleichen Entfernung. Die Lust schwindet. Obwohl nahe am Ziel, wägt man zumindest kurzfristig die Alternative ab, den Rückzug anzutreten.
Joachim Löw meldet seine Mannschaft natürlich nicht vom Spielbetrieb ab. Sie wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien qualifizieren. Die Leichtigkeit ist aber verloren gegangen. Das Team hat sich zu einem glücklichen Sieg gegen Österreich gequält. Zuvor bezwang die deutsche Mannschaft zwar die Färöer-Inseln, konnte dabei aber nichts gewinnen. Und auch das erste Spiel nach dem EM-Aus gegen Italien lieferte keinen Anlass zu glauben, der Gipfelsturm verlaufe problemlos. Zwar wirkte sich beim 1:3 gegen Argentinien eine frühe Rote Karte entschuldigend auf die Analyse aus, doch vor allem der Defensivverbund lieferte schon da Anlass zur Sorge.
Nach Jahren des Fortschritts stagniert die Nationalmannschaft
Für Löw und seine Mannschaft ist das ein ungewohntes Gefühl. Seitdem der Coach 2006 die Nationalauswahl übernahm, ging es stetig und schnell bergauf. Die Mannschaft entwickelte sich spielerisch und taktisch derart rasch, dass die Lücke zu Spanien schon beinahe geschlossen schien. Nun stagniert die Elf, macht sogar den ein oder anderen Schritt zurück – und stellt Bergführer Löw vor Probleme. Das Spiel in Wien offenbarte einmal mehr, dass zumindest ein Glied seiner Abwehrkette durchhängt. Ungewöhnlich klar hat Löw nach dem Spiel gegen Österreich seinen Linksverteidiger Marcel Schmelzer gerügt. „Den Fehler vor dem 1:2 darf er nicht begehen“, so der Bundestrainer. Schmelzer hatte sich im Verbund mit Mario Götze von Marko Arnautovic an der Außenlinie vorführen lassen. Der daraus resultierende Anschlusstreffer durch Zlatko Junuzovic gewährte den Österreichern noch einmal den Zugang zum Spiel.
Doch Löw bleibt nichts anderes übrig, als weiter auf den Dortmunder zu setzen. Gute deutsche Innenverteidiger sind seltener als Togolesen auf dem Matterhorn. „Wir haben links nicht allzu viele Alternativen und werden darum weiter mit Schmelzer arbeiten“, sagt Löw. Ein Vertrauensbeweis klingt anders. Der Bundestrainer ist nicht überzeugt von Schmelzer, hat aber immerhin noch die Hoffnung, dass „er sich weiterentwickelt auf internationales Niveau“.
Löw braucht Ersatz für Lahm
Im kommenden Qualifikationsspiel in Irland steht Löw zudem vor der Aufgabe, einen Ersatz für Philipp Lahm zu suchen. Der Kapitän sah gegen Österreich bereits seine zweite Gelbe Karte im zweiten Quali-Spiel und ist somit gesperrt. Dafür wird dann wohl wieder Bastian Schweinsteiger in den Kader rücken. Er kann der Mannschaft zusätzlich Halt geben, wenn sie ins Schwanken gerät, und hat, wie der überwiegende Teil der Mannschaft, bereits bewiesen, dass er großen Aufgaben gewachsen ist. Nach dem Aus bei der EM aber ist die kommende große Aufgabe noch zwei Jahre entfernt. Die Bundesligasaison hat gerade erst begonnen, einige Spieler brauchen noch Zeit, um in Tritt zu kommen. Gründe für den mäßigen Kick gegen Österreich gibt es genug. Zudem verfügt das Nachbarland derzeit über die beste Auswahl seit Jahren.
Kein Aufstieg zum Gipfel verläuft auf direktem Weg. Manchmal muss man sich ein wenig abseilen, um eine bessere Route zu erkennen.