Herr Pfleger, am Montag konnten Sie die WM-Partie nicht bis zum Ende verfolgen. Hat Sie das geschmerzt?
Manchmal schmerzt es viel mehr, wenn man es bis zum Ende mitanschauen muss (lacht). Ich persönlich hoffe im Gegensatz zu den meisten anderen, dass Anand gewinnt.
Warum?
Weil er viel sympathischer ist als Carlsen. Ich kenne ihn schon lange persönlich. Mit Carlsen hingegen habe ich nichts zu tun.
Können Sie die beiden charakterisieren?
Anand ist einer, der über den Brettrand hinausschaut. Vielseitig interessiert, hochintelligent. Wobei: Der andere ist weiß Gott auch nicht dumm. Anand ist humorvoll, für gesellige Runden geeignet. Carlsen hingegen ist eher abweisend, kann schroff und sogar flegelhaft sein, obwohl er aus einer sympathischen Familie kommt. Mit seinen Freunden kann er auftauen, aber insgesamt hat er mehr Probleme im Umgang mit Menschen als Anand.
Flegelhaft – gilt das auch am Brett?
Mühsam die Formen wahrend, das trifft es wohl. Man sieht es auch jetzt: Carlsen lümmelt sich oft in seinen Stuhl. Das gehört sich nicht.
Am Montag beschrieben die Experten, Carlsen habe das Spiel nur weitergespielt, um den Gegner für den Folgetag zu schwächen. Kann man einen Schachgegner müde spielen?
Das ist möglich und auch legitim. Carlsens große Stärke ist sein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Wenn andere sich auf die nächste Partie vorbereiten, spielt Carlsen Fußball und Volleyball mit seinen Freunden. Er hat einen gestählten Körper. Konditionell ist er im Vorteil, Anand ist zudem fast doppelt so alt. Warum soll er das nicht in die Waagschale werfen? Schach ist Sport. Wenn es irgendwie geht, spielt er jede Partie zu Ende. Das kann für den Verteidiger, der lange am Rande des Abgrunds wankt, sehr anstrengend sein.
Wer wird am Ende die Oberhand behalten?
Carlsen wird wieder gewinnen. Das Leben ist kein Wunschkonzert.
Carlsen ist Weltranglistenerster, hat die beste ELO-Zahl aller Schachspieler der Welt. Was bedeutet die?
Das ist die Bewertungszahl, ähnlich gibt es das im Tennis oder im Golf. Das heißt ganz einfach: Carlsen ist seit Jahren der beste Spieler in der Welt.
Auch der Beste, den es jemals gab?
Nein, verschiedene Generationen kann man nicht miteinander vergleichen. Zum Beispiel war der Amerikaner Bobby Fischer einzigartig. Er hat seine Gegner demoliert. Oder Garri Kasparow – ein Riese! Nur haben sie alle nie gegeneinander gespielt. Aber: Carlsen ist gewaltig stark. Er ist nicht nur im klassischen, langsamen Schach, das jetzt bei der Weltmeisterschaft gespielt wird, Weltmeister. Sondern auch im Schnellschach und im Blitzschach. Ein Meister aller Klassen. Das spricht für sich.
Was lässt sich im Schach verdienen?
Die besten Zehn der Welt – und natürlich vor allem Carlsen und Anand – verdienen sehr viel mit Sponsorenverträgen, Turniergeldern, Antrittsgeldern, Vorträgen, oder jetzt auch mit der WM. In schlechten Jahren wenigstens eine Million Euro, vermutlich ein gutes Stück mehr. Die WM ist allerdings relativ schlecht honoriert. Der Gewinner erhält etwas mehr als eine Million Euro. Kasparow, Karpow, Kramnik – das sind alles Multimillionäre. Ein Wald- und Wiesen-Großmeister hingegen lebt natürlich mehr schlecht als recht.
2006 verlor Vladimir Kramnik gegen den Schachcomputer „Deep Fritz“. Wie hat sich das Verhältnis von Computer zu Mensch entwickelt?
Kein Mensch kann noch mit dem Computer mithalten. Und trotzdem ist das menschliche Element sehr wichtig, der Horizont des Menschen geht bisweilen noch weiter als der des Computers, obwohl der hunderte von Millionen Stellungen pro Sekunde prüfen kann. Der Mensch gerade eine. Wenn ein Computer und ein Mensch zusammen gegen einen Computer spielen, gewinnt die Kombination aus Computer und Mensch.
Die Partien bei der laufenden WM sind vermutlich kräftezehrend. Wie erholen sich Carlsen und Anand?
Anand ist im Kreis von Freunden beim Essen, um wieder herunterzukommen. Beide haben ihre Sekundanten dabei, die angewiesen sind, die ganze Nacht durchzuarbeiten. Sie entwerfen Strategien, während der Herr und Meister – so Gott will – eine ruhige Nacht verbringt, um sich beim Frühstück anzuschauen, was die Sekundanten präsentieren. Peter Leko, ein ungarischer Großmeister, hat mir mal gesagt, er studiere tagsüber mit seinem Sekundanten verschiedene Varianten und lasse nachts seinen Computer über all diese Entwürfe laufen – wenn er selbst noch Sport mache.
Dass Schach Sport ist, haben Sie nachgewiesen...
1981 habe ich in der Sportschule Grünwald den C-Kader des Deutschen Schachbundes versammelt. Die Akteure wurden verkabelt, in einer echten Turnierpartie haben wir bei ihnen bei einer besonders wilden, verwickelten Stellung, das Ohrläppchen angezapft.
Was kam heraus?
Die Werte sind vergleichbar mit denen anderer Leichtsportarten. Beim Schachspieler, der eigentlich so ruhig dasitzt, gehen im Körper Revolutionen vor sich. Interview: Olaf Kupfer
Dr. Helmut Pfleger (Bild/71) ist der wohl bekannteste deutsche Schachexperte. Er hat Medizin studiert, arbeitete als Internist und Psychotherapeut in München, wurde aber vor allem durch seine Fernsehauftritte und Sachbücher bekannt. Pfleger trägt den Titel eines Großmeisters. Im WM-Kampf Carlsen – Anand war gestern Ruhetag. Carlsen führt mit 4,5:3;5 Punkten. Weltmeister wird, wer zuerst 6,5 Punkte gewonnen hat (1 Punkt für den Sieger; 0,5 bei Remis für beides Spieler).