Im Grunde genommen ist das doch ganz einfach, da genügen ein paar Verszeilen: „Der Billy kommt aus London, der Franzl kommt aus Wien,/ die Jeanny kommt aus Brüssel, die Gaby aus Berlin./ Wir kommen aus dem Norden, aus West und Ost und Süd,/ wir kommen her als Freunde und singen froh das Lied: Europa braucht uns alle, in jedem Land und Ort/ pflanzt sich die Losung fort, in Ost, West, Süd und Nord,/ ihr Völker Europas, lasst uns zusammengeh’n, wir werden uns gut versteh’n.“ Voilà, damit haben wir locker alle Grenzen überwunden und sind zu einem einzig’ Volk von Brüdern verschmolzen, den Vereinigten Staaten von Europa.
Na ja, ganz so gut hat das noch nicht geklappt, was da in diesem Lied vor 50 Jahren gesungen wurde. Es entstand für eine Art Sternfahrt der Katholischen Arbeiterjugend, die sich 1964 in Straßburg traf – und teilweise mit dem Fahrrad dorthin strampelte, um den CAJ-Gründer Josef Cardijn zu erleben. Und um dieses europäische Gefühl zu spüren, knapp zwei Jahrzehnte nachdem der Zweite Weltkrieg den Kontinent in Trümmer gelegt hatte.
Die EU-Begeisterung ist abgeflaut – aber jetzt sollen die Sterne tanzen?
In der sechsten Strophe dieser Europa-Euphoriehymne stehen die optimistischen Zeilen: „Schreib deinem Freund in London, fahr mal ins andere Land,/ Europas Grenzen fallen, das liegt doch auf der Hand.“ Nun ist durch das Schengen-Abkommen tatsächlich der Wald der Schlagbäume abgeholzt worden, doch nicht wenige Menschen würden es ganz gerne sehen, würde er zumindest entlang mancher Grenzen wieder nachwachsen.
Die Begeisterung für den kleinen Kontinent, auf dem die Sterne im Kreis tanzen, hat zumindest bei denen, die zum EU-Reigen gehören, teilweise spürbar nachgelassen. Und dann suchen sie heute Abend beim Eurovision Song Contest in Kopenhagen wieder dieses eine Lied, das irgendwie den gesamtkontinentalen Geschmack treffen soll, auch wenn Teilnehmer wie Israel dem Nahen Osten, Aserbaidschan und der Löwen- oder besser Bärenanteil von Russland Asien zuzurechnen sind.
Beethovens neunte Sinfonie ist Europahymne
Aber, welches Lied kann – abseits des Schlagerpop-Wettsingens und Wetttanzens – wirklich für Europa stehen? Der Europarat hat diese Frage im Prinzip schon 1972 beantwortet, indem er den letzten Teil von Beethovens neunter Sinfonie zur Europahymne erkor. Da haben sich unsere einst so kriegstraumatisierten Landsleute sehr gefreut, dass ausgerechnet die Melodie eines Deutschen, der sinnigerweise aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn stammte, zum musikalischen Symbol für den zusammenwachsenden Kontinent erhoben wurde.
Die Hymne hat nur einen Nachteil: Sie kann lediglich gesummt oder ergriffen angehört werden, denn der deutsche Text von Friedrich Schiller („An die Freude“) wurde schlicht gestrichen. Von wegen „schöner Götterfunken“. Das können Franzosen oder Engländer schlecht aussprechen, obwohl die Beatles in ihrem zweiten Film „Help!“ den Beethoven-Chor wunderbar schräg runtersingen, um damit einen Tiger zu beruhigen. Allerdings tun sich heutzutage selbst Muttersprachler nicht gerade leicht mit Worten wie „feuertrunken“ oder den „Brüsten der Natur“, aus denen die Freude gesaugt wird.
Den meisten Älteren unter uns, die sich wohlig daran erinnern, wie sie als Jungspund frisch gebadet am Samstagabend vor dem altherrenwitzelnden Hans-Joachim Kuhlenkampff saßen und „Einer wird gewinnen“ bestaunten, ist die Eurovisionshymne ins Blut übergegangen. Sie verlieh als Vorspann damals Sport- wie Quizsendungen eine Völker verbindende Dimension. Dadurch wurden zwar nicht alle Menschen Brüder, wie Schiller schwärmte, doch sie taten für ein paar Stunden das Gleiche: Sie guckten in die Röhre. Diese Melodie des französischen Komponisten Marc-Antoine Charpentier aus dem späten 17. Jahrhundert stand einst ebenfalls als Euro-Hymne zur Wahl, konnte sich aber nicht durchsetzen.
Mehrheitsfähig wäre in Fußball-Europa allenfalls noch die Hymne für die Champions League, ein aufgedonnertes musikalisches Destillat aus Händels „Coronation Anthems“, das sogar über einen dreisprachigen Text verfügt mit Versen wie diesem: „Ce sont les meilleures équipes, sie sind die allerbesten Mannschaften, the main event, die Meister, die Besten, les grandes équipes, the champions.“ Viele Nationalhymnen kommen nicht viel bescheidener daher. Aber als gut dressierter TV-Glotzer oder Stadiongänger möchte man danach 90 Minuten Blut, Schweiß und Tränen sehen, was bei staatstragenden Anlässen, bei denen ansonsten Hymnen aufgeführt werden, eher nicht vorgesehen ist.
„Ein bisschen Frieden“ hilft hier längst nicht mehr
Angesichts der aktuellen Herausforderungen, die dieses Staatengebilde namens Europäische Union zu bewältigen hat, ließen sich viele Lieder finden, die den Zustand der Gemeinschaft abbilden könnten. Etwa die Hilflosigkeit angesichts der eskalierenden Gewalt in der zerfallenden Ukraine. Da hilft schon längst kein „bisschen Frieden“ mehr. Zyniker würden da vielleicht ein älteres Stück der militanten Britenband New Model Army auflegen, die den Wirrwarr dieser Welt als heraufziehenden Krieg beschreibt: „Here Comes The War.“ Vielleicht ließe sich auch an die Loreley denken, die auf dem Felsen hockt und singend bekennt: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …“
Dabei ist das beileibe kein „Märchen aus uralten Zeiten“, was da in diesem zerrissenen Staat zwischen Europa und Russland aufgeführt wird, sondern ein veritabler Alptraum – „Welcome To My Nightmare“ (Alice Cooper).
Was Europa so lange gebeutelt hat, war die Krise der Gemeinschaftswährung. Länder wie Irland und Portugal hatten sich übernommen, die Griechen hatten ihren Staat fast komplett an die Wand gefahren. Da war guter Rat billig und der Euro-Rettungsschirm unglaublich teuer. Hier fällt einem womöglich ein altes ABBA-Stück ein, das da sinnigerweise „Waterloo“ heißt, denn für die Gemeinschaftswährung drohte ein solches. Ein bisschen weniger dramatisch wäre hingegen „Money, Money, Money“: Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch beinah’ alles.
Deshalb wollen ja auch viele Menschen in den Wohlstand verheißenden Staatenbund. Doch die EU gibt sich gerne nach außen hin als Festung – und auf dem Mittelmeer spielen sich furchtbare Dramen ab. Das erinnert an die Boatpeople der späten 70er Jahre, die nach dem Ende des Vietnamkrieges aus dem nunmehr kommunistisch regierten Land in verrotteten Schiffen aufs Meer hinaus flohen, hin zu einer höchst ungewissen Zukunft. Die englische Band 10cc („I’m Not In Love“) schrieb darüber ein leider weitgehend unbekannt gebliebenes Stück namens „Don’t Send We Back“ – schickt uns nicht zurück. Das könnte man mal wieder hören.
Rechtspopulisten würde so was aber gar nicht gefallen. Sie werden vermutlich der kommenden Europawahl den Stempel aufdrücken. In England etwa will Nigel Farage mit seiner UKIP die EU zum Teufel jagen. Was der sich wünscht, ist nicht schwer zu erraten: den letzten Countdown, „The Final Countdown“ für die Gemeinschaft. Das Stück hat interessanterweise eine schwedische Band geschrieben, die schon Europe hieß, als das Land der EU noch gar nicht beigetreten war.
Es steht also nicht sehr gut um den europäischen Gemeinschaftsgedanken, deshalb wäre etwas Aufmunterndes angezeigt. Die Toten Hosen, eine Band mit großem Stehvermögen, hätte die passende Hymne im Repertoire: „Steh auf, wenn du am Boden bist.“ Oder lauschen wir doch mal wieder Xavier Naidoo, der ein höchst beliebtes Lied gesungen hat, in dem er versichert, „dieser Weg wird kein leichter sein“. Damit ließ sich immerhin ein Fußball-Sommermärchen beschallen. Der Weg zum besseren Europa, der ist wirklich „steinig und schwer“.
Muss, was mit Beethoven beginnt, jetzt bei Rammstein enden?
Aber, ist der Text nicht zu deutsch und damit für andere unzumutbar? Mitnichten. Wo doch Menschen englischer Zunge problemlos deutsche Texte singen können, wenn es darauf ankommt. Sie schaffen es, Lieder der im Ausland extrem erfolgreichen Teutonenrocker Rammstein fehlerfrei zu grölen, haben keine Probleme mit Zeilen wie „Steck Bratwurst in dein Sauerkraut“.
Jetzt aber mal Spaß beiseite: Das vielleicht passendste Lied spielen heute Abend beim Song Contest drei junge Frauen unter dem Bandnamen Elaiza. Die Sängerin stammt aus der Ukraine, hat in Polen gelebt, ist Saarländerin geworden und tritt mit englisch gesungenem Osteuropa-Schunkelpop in Dänemark für Deutschland an. An so etwas muss John Lennon in „Imagine“ gedacht haben, als er sang: „Stell dir vor, es gibt keine Länder ...“ Und der Refrain des Elaiza-Liedes passt auch zur wankelmütig unentschlossenen EU: „Ist es richtig, ist es falsch? Du weißt nicht wie und nicht wohin …“
Genau. Deshalb empfehlen wir unseren europäischen Freunden: Gebt den Dreien Zwölf.